Vom Nutzen des Waffenstillstands

KIEW/BERLIN
(Eigener Bericht) – Deutsche Außenpolitiker stellen eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland zur Debatte. Angesichts der neuen Eskalation der Kämpfe im Osten der Ukraine werde man „leider über schärfere Sanktionen reden müssen“, erklären mehrere Vertreter der transatlantischen Fraktion im deutschen Polit-Establishment. Die jüngste Eskalation in Donezk und Mariupol, für die Berlin umstandslos die ostukrainischen Aufständischen oder gar Moskau verantwortlich macht, folgt auf Mobilmachungs- und Aufrüstungsschritte der Kiewer Regierung, die Beobachtern zufolge auf eine bevorstehende groß angelegte Militäroffensive schließen lassen. Kiew leitet zudem die langfristige Militarisierung des Landes in die Wege: Jugendliche und sogar Kinder sollen in Zukunft nicht nur eine „national-patriotische Erziehung“ durchlaufen, sondern in der Schule auch „den Umgang mit Gewehren und der Kalaschnikow lernen“. Das Europaparlament hat vor wenigen Tagen die Lieferung von „Schutzwaffen“ an die Ukraine ausdrücklich befürwortet; Berlin hat derartige Ausfuhren bereits im vergangenen Jahr genehmigt. Ergänzend zur Ausweitung des militärischen Konflikts bereitet Brüssel nun auch eine umfassende Propagandakampagne vor.
Sanktionen auf der Tagesordnung
Mehrere Außenpolitiker der transatlantischen Fraktion des deutschen Polit-Establishments stellen eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland zur Debatte. Anlass ist die erneute Zuspitzung der Kämpfe in der Ostukraine und insbesondere der jüngste Beschuss der Hafenstadt Mariupol. Die Schuld an der Eskalation wird umstandslos und ohne nähere Begründung Moskau zugeschrieben. Brüssel dürfe „die aktuelle Eskalationspolitik des Kremls nicht unbeantwortet lassen“, erklärt der außenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Omid Nouripour; man müsse deshalb neue Sanktionen in Betracht ziehen.[1] Russland sei „der Kriegstreiber in der Region, weil es die Separatisten mit schweren Waffen, logistischer Hilfe und Treibstoff versorgt“, wird der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann zitiert: „Wenn die russische Regierung also nicht nachweisbare Fortschritte zur Deeskalation der Lage nachweisen kann“, dann werde man „leider über schärfere Sanktionen reden müssen“. Auch die CDU-Außenpolitikerin Elisabeth Motschmann sagt: „Die EU muss sich wieder mit dem Thema Sanktionen beschäftigen.“
Vor der Offensive
Der aktuellen Eskalation vorausgegangen waren umfassende Mobilmachungs- und Aufrüstungsschritte der Kiewer Regierung. Präsident Petro Poroschenko hatte angekündigt, rund 50.000 Wehrpflichtige im Alter zwischen 16 und 60 Jahren einzuberufen; sie sollten drei Wochen lang ausgebildet und dann umgehend an die Bürgerkriegsfront abkommandiert werden.[2] Weitere 50.000 Männer würden in einigen Monaten zur Armee eingezogen, teilte Poroschenko mit. Gleichzeitig übergab er den ukrainischen Streitkräften offiziell neues Kriegsgerät, darunter Sturmgewehre, Haubitzen, Schützenpanzer sowie Kampfflieger – und kommentierte dies: „So nutzen wir den sogenannten Waffenstillstand.“[3] Unter anderem aufgrund der Aufrüstung im großen Stil gingen Beobachter davon aus, dass Kiew eine groß angelegte Militäroffensive plane. Die jüngste Eskalation erfolgte nun nach dem bis heute nicht aufgeklärten Granatbeschuss eines Busses in Donezk, dem 13 Zivilisten zum Opfer fielen – die ostukrainischen Aufständischen sehen die Schuld bei Kiewer Regierungseinheiten – und nach dem Raketenangriff auf Mariupol, bei dem mindestens 30 Zivilisten zu Tode kamen; ihn schreibt Kiew den Aufständischen zu.
„Schutzwaffen“ und „Schulungsmissionen“
Bei ihrer Aufrüstung kann die Ukraine sich auf europäische und nordamerikanische Zulieferungen sogenannter nicht-tödlicher („non-letaler“), aber militärisch unverzichtbarer Ausrüstung stützen. Über solche Lieferungen ist schon mehrfach berichtet worden; auch Berlin hat im September 2014 bestätigt, die Prüfung diverser Anträge zur Lieferung militärischer „Schutzausrüstung“ bereits „mit positivem Ergebnis abgeschlossen“ zu haben.[4] Unlängst hat sich nun das Europaparlament dafür ausgesprochen, die EU solle „Möglichkeiten prüfen …, die Regierung der Ukraine beim Ausbau der Verteidigungsfähigkeiten und dem Schutz der Außengrenzen des Landes zu unterstützen“.[5] Dies sei möglich, da der Rat der EU „am 16. Juli 2014 das Waffenembargo gegen die Ukraine aufgehoben“ habe; „Einwände oder rechtliche Beschränkungen für die Lieferung von Schutzwaffen aus den Mitgliedstaaten an die Ukraine“ bestünden deshalb nicht. Ausdrücklich „unterstützt“ das Europaparlament „die derzeitigen Lieferungen nichtletaler Ausrüstungsgegenstände“; außerdem heißt es, die EU müsse „Schulungsmissionen“ für die ukrainischen Streitkräfte durchführen.
Orwell im Anmarsch
Die Aufrüstung der Ukraine soll durch umfangreiche PR-Maßnahmen begleitet werden. Wie das Parlament fordert, soll die EU-Kommission „binnen zwei Monaten eine Kommunikationsstrategie“ ausarbeiten, um „auf EU-Ebene wie auch in den Mitgliedstaaten“ gegen russische „Propaganda“ vorzugehen.[6] Kiew ist bereits einen Schritt weiter und hat – mit derselben Begründung – kürzlich ein „Informationsministerium“ gegründet, das weltweit auf scharfe Kritik gestoßen ist. Der neue Minister Juri Stez hatte zuvor rund zehn Jahre lang den privaten TV-Sender „Kanal 5“ des derzeitigen Präsidenten Poroschenko geleitet.
National-patriotische Erziehung
Ergänzend zu Aufrüstung und Mobilmachung im großen Stil hat die Kiewer Regierung inzwischen auch Schritte in die Wege geleitet, die auf eine langfristig angelegte Militarisierung des Landes zielen. Die Maßnahmen rufen selbst in deutschen Leitmedien, die ansonsten die neuen Machthaber der Ukraine stützen, ein gewisses Stirnrunzeln hervor. Dort wird berichtet, insbesondere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sei ein „leidenschaftlicher Verfechter der Intensivierung von Schulprogrammen zur ’national-patriotischen Erziehung'“ der Jugend. So setze er sich dafür ein, im Geschichtsunterricht solle „besonders von der steten Wehrhaftigkeit der ukrainischen Nation die Rede sein – von den Kosaken bis hin zur ‚Ukrainischen Aufständischen Armee'“.[7] Letztere kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Seite NS-Deutschlands gegen die Rote Armee und verübte Massaker an mehr als 91.000 Menschen meist polnischer Sprache und teils jüdischen Glaubens.[8]
Mit der Kalaschnikow in die Schule
Zudem sähen „neue volkserzieherische Richtlinien“, die Jazenjuk „zur Diskussion gestellt“ habe, „für die Oberstufe unter dem Stichwort ‚Heimatschutz‘ auch eine umfassende Ausbildung an der Waffe vor“. Jugendliche sollten „den Umgang mit Gewehren und der Kalaschnikow lernen“; zur Ausbildung gehörten zudem der „Einsatz von Gasmasken, der Umgang mit Handgranaten und die Aufklärung über verschiedene Minentypen“. Schon jetzt veranstalteten private Militaristenvereine „Freizeitcamps“, auf denen „ukrainische Mädchen und Jungen … schießen lernen und Kampfsportarten trainieren“: „Das tun sogar Grundschulkinder, die, gehüllt in ukrainische Militäruniformen, auf der Internetseite von Julia Timoschenko als Beitrag ihrer Partei zur Steigerung der nationalen Kampfmoral präsentiert werden.“ „Waffenausbildung für Jugendliche“ werde darüber hinaus „auch in Militäreinrichtungen angeboten“.[9] Bis zu ihrer Übernahme durch Russland sei dies auch auf der Krim üblich gewesen.
Milliardenkredite
Während Kiew die Militarisierung des Landes vorantreibt und, schon seit langem am Rande des Staatsbankrotts balancierend, seinen Militärhaushalt auf 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht hat (rund 4,8 Milliarden Euro) [10], unterstützen Berlin und die EU die prowestlich gewendete Ukraine nicht nur politisch, sondern auch finanziell: Nach Kreditgarantien in Höhe von einer halben Milliarde Euro, die Berlin kürzlich zugesagt hat, hat die EU-Kommission Darlehen in Höhe von fast zwei Milliarden Euro zugesagt. Von Einwänden gegen die dramatische Aufstockung des Militärhaushalts und gegen die allgemeine Militarisierung ist nichts bekannt.
Differenzen
Besteht in Berlin bezüglich der Unterstützung der Kiewer Kriegsfraktion Konsens, so zeigen sich dennoch Differenzen in der Beurteilung der Russland-Sanktionen. Starke Kräfte sind der Ansicht, man solle mit dem geschwächten Russland wieder besser kooperieren, um erneut ökonomischen Profit aus der Zusammenarbeit ziehen zu können. Die Einsetzung eines prowestlichen Regimes in Kiew und seine ansatzweise Stabilisierung reichten als geostrategischer Vorteil aus dem Konflikt vorläufig aus; eine umfassende Destabilisierung Moskaus sei nicht notwendig und derzeit nicht wünschenswert. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

Ukraine: Kiew auf Kriegskurs

Während die militärische Auseinandersetzung im Donbass wieder eskaliert, setzt der Westen auf eine verschärfte Konfrontation gegenüber Russland –

Von SEBASTIAN RANGE, 16. Januar 2014 –

Am Donnerstag verabschiedete das Europäische Parlament fraktionsübergreifend – einschließlich der GUE/NGL-Fraktion, der auch Die Linke angehört – eine gegen Russland gerichtete Resolution, in der Moskau eine „aggressive und expansionistische Politik“ vorgeworfen wird, die eine „Bedrohung für die EU“ darstelle. (1) Die Resolution beruht auf einen Entwurf der Fraktion der Europäischen Volkspartei, in der die CDU die stärkste Kraft ist. Neben der Verurteilung der „illegalen Annexion der Krim“ wird Russland vorgeworfen, einen „hybriden Krieg gegen die Ukraine zu führen“.

Die „Separatisten und russische Kräfte“ hätten das Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 5. September „täglich gebrochen“, während es einzig der Kiewer Regierung zu verdanken sei, dass die Anzahl der Verstöße gegen das Abkommen „drastisch reduziert“ werden konnte. Die Einseitigkeit der Schuldzuweisung seitens der EU-Parlamentarier ist offenkundig politisch motiviert, mit der Realität vor Ort hat sie wenig zu tun. Die ukrainischen Truppen haben nachweislich auch nach dem 5. September wiederholt schwere Angriffe gegen das von den Aufständischen kontrollierte Gebiet geführt, und dabei auch die von über einhundert Staaten geächtete Streumunition „wahllos in Wohngebieten eingesetzt“, „besonders bei den Angriffen Anfang Oktober in Donezk“ , wie die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem Bericht feststellte. (2)

Dennoch sind in der EU-Resolution Attribute wie „terroristisch“ und „kriminell“ einzig den „Separatisten“ vorbehalten, während der Regierung von Präsident Petro Poroschenko attestiert wird, die Grundlagen für  eine „echte Demokratie“ gelegt zu haben. Eine Aufrechterhaltung oder gar Verschärfung der Sanktionen gegen Moskau wird ebenso gefordert wie die Entwicklung einer „Kommunikationsstrategie“ seitens der EU, um der „russischen Propaganda-Kampagne“ entgegen zu wirken. Darüber hinaus sei eine engere Kooperation zwischen der EU und den USA bezüglich der Ukraine „vorteilhaft“.

Energiepolitisches Erdbeben

Zudem gelte es, Pipleline-Projekte zum Zweck einer  Energiediversifizierung voranzutreiben und die Abhängigkeit von Russland in dieser Frage zu reduzieren. In diesem Zusammenhang begrüßten die EU-Parlamentarier den Stopp des Baus der Southstream-Gasröhre, die unter Umgehung der Ukraine russisches Gas in die EU liefern sollte. Die Entwicklung „konkreter Alternativen, um den Mitgliedstaaten zu helfen, die gegenwärtig von Russland als einzigem Versorger abhängig sind“, muss die EU künftig wohl schneller vorantreiben, als ihr lieb ist.

Denn Russland reagierte nach Bekanntwerden des Inhalts der Resolution mit einem „sehr überraschenden“ Schritt, wie der Vizepräsident der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, nach einem Treffen in Moskau mit Vertretern des Energiekonzerns Gazprom am Mittwoch formulierte. (3) Das russische Unternehmen kündigte an, sämtliche über die Ukraine laufenden Gaslieferungen einzustellen, sobald der kürzlich vereinbarte Bau einer Pipeline in die Türkei fertig gestellt ist. „Wir diversifizieren und mindern die durch unverlässliche Länder entstandenen Risiken, die in den vergangenen Jahren Probleme bereiteten, auch für die europäischen Konsumenten“, zitiert die NachrichtenagenturBloomberg Russlands Energieminister Alexander Novak. Der Gastransfer werde künftig über die Türkei laufen, „es gibt keine andere Option“, äußerte sich Gazprom-Generaldirektor Alexey Miller. Brenzlig für die EU ist diese Entscheidung vor allem deshalb, da für eine Weiterleitung des Gases aus der Türkei in die EU noch keine entsprechenden Kapazitäten bestehen „Wir haben unsere europäischen Partner informiert, und jetzt ist es an ihnen, die notwendige Infrastruktur, beginnend an der türkisch-griechischen Grenze, aufzubauen“, so Miller.(4)

„Ich glaube, wir finden eine bessere Lösung“, übte sich Šefčovič anschließend in Zuversicht, der eigentlich nach Moskau gereist war, um die Energieversorgung der südosteuropäischen EU-Staaten nach dem Scheitern des Southstream-Projekts zu erörtern.

Verhandlungen derzeit unzweckmäßig

Zuvor war am Montag ein ursprünglich für diesen Donnerstag vorgesehenes Vierer-Treffen mit den Staats- und Regierungschefs Russlands, Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine von der Bundesregierung abgesagt worden, da es zu diesem Zeitpunkt nicht „politisch zweckmäßig“ sei, wie der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, erklärte.

„Ein Gipfeltreffen kann es nur mit greifbaren Fortschritten geben“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am vergangenen Freitag, und bezog sich dabei auf eine umfassende Umsetzung des Minsker Abkommens. Berlin sieht diesbezüglich jedoch nur Russland sowie die Vertreter der „Volksrepubliken“ in der Bringschuld. Letztere sollen – darin sind sich Kiew und die Bundesregierung einig – an den Verhandlungen allerdings nicht teilnehmen dürfen. Deren Teilnahme wäre auch „rechtlich schwierig“, sagte Schäfer, man müsse daher darauf hinwirken, „dass der Einfluss, den Moskau auf die Separatisten hat, auch tatsächlich wirksam wird“. (5)

Für das Zustandekommen des Vierer-Treffens müsse es zumindest die Hoffnung geben, dass dabei tatsächlich Resultate erzielt würden, erklärte die Bundeskanzlerin am Mittwoch nach einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Der forderte Russland anschließend auf, die Unterstützung für die Separatisten aufzugeben.

Anlässlich des Deutschland-Besuches des ukrainischen Premierministers Arseni Jazenjuk vergangene Woche hatte sich Merkel erneut gegen ein Ende der Anti-Russland-Sanktionen ausgesprochen. „Die Sanktionen können nur aufgehoben werden, wenn die Ursachen beseitigt sind“, so die Kanzlerin. Was die Krim angehe, habe sie „momentan wenig Hoffnung“. (6)
Zuvor war in einigen EU-Staaten, darunter Frankreich, der Ruf nach einer Aufhebung der Sanktionen laut geworden. Während seines Aufenthalts in Berlin offenbarte Jazenjuk erneut – im vergangenen Jahr hatte er die Donbass-Bevölkerung als „Untermenschen“ bezeichnet (7) – wessen Geistes Kind er ist. In einem ARD-Interview zog der Regierungschef  eine Parallele zwischen dem Krieg in der Ostukraine und dem Zweiten Weltkrieg. „Wir erinnern uns alle sehr gut an die sowjetische Invasion in der Ukraine und in Deutschland.“ Aufgrund dieser geschichtsrevisionistischen Äußerung sandte Moskau eine Protestnote an das Auswärtige Amt, das daraufhin Jazenjuks Leugnung des Angriffskrieges der Nazis als „Ausdruck der für uns sehr wichtigen Meinungsfreiheit“ betrachtete. (8)

Auch sonst wurde der aus der Westukraine stammende Nationalist, den Tschechiens Präsident Milos Zeman jüngst als „Premierminister des Krieges“ bezeichnete, der die Probleme im Donbass mit Gewalt lösen wolle, in Berlin mit Samthandschuhen angefasst. Aufforderungen von Human Rights Watch an die Adresse der Bundesregierung als einem der „engsten Verbündeten der Ukraine“, von Jazenjuk und seiner Regierung die Achtung des Kriegsrechts und einen besseren Schutz der Zivilisten im Donbass einzufordern, verhallten offenbar ungehört. (9)

Stattdessen konnte der US-Wunsch-Premierminister – von der Stellvertreterin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, in dem berühmt-berüchtigten „Fuck the EU“-Telefonat als „unser Mann“ bezeichnet – seinen Berlin-Besuch nutzen, um die nun vom EU-Parlament übernommene Unwahrheit unwidersprochen zum Besten zu geben, wonach die Ukraine „ihren Teil des Abkommens eingehalten“ habe, während „Russland dagegen keinen Punkt des Minsker Abkommens erfüllt“ habe. Während seiner Visite sagte die Bundesregierung Jazenjuk einen Kredit in Höhe einer halben Milliarde Euro zur Finanzierung des „Wiederaufbau in der Ostukraine“ zu. Damit die Gelder für den Wiederaufbau fließen können, muss das Gebiet jedoch zuerst wieder unter Kiews Kontrolle kommen, was faktisch auf eine militärische Rückeroberung hinaus läuft.

Ukrainische Armee: Gerüstet für erneuten Kriegseinsatz

Zu diesem Zweck wurde die ukrainische Armee in den vergangenen Monate mithilfe von NATO-Staaten hochgerüstet. Mehrmal übergab Präsident Poroschenko im vergangenen Monat persönlich neue Waffen an das Militär, darunter schweres Kriegsgerät wie Kampfjets, Haubitzen und Schützenpanzer. „Wir können heute zeigen, wofür die Haushaltsgelder ausgegeben werden“, sagte der Präsident bei einer solchen Gelegenheit vor gut einer Woche Poroschenko. „Direkt vor uns stehen die mächtigsten 203-mm-Panzerhaubitzen Pion, die sich in der Anti-Terror-Operation bewährt haben und den Feind in Angst versetzen. Erstmals seit Jahren übergeben wir den Streitkräften gut bewaffnete und modernisierte Flugzeuge“, so der Staatschef. (10)

„Ich bin überzeugt, dass 2015 das Jahr unseres Sieges wird. Dazu brauchen wir eine starke, patriotische und gut ausgerüstete Armee“, heißt es auf seiner Webseite zum Jahresbeginn. (11)

Unmittelbar nach der Parlamentswahl Ende Oktober hatte Premier Jazenjuk erklärt, Hauptaufgabe der neuen Regierung sei es, eine „schlagkräftige Armee“ gegen die „russische Aggression“ aufzubauen. Die Regierung werde laut Koalitionsentwurf „Maßnahmen zur Rückkehr der Krim“ in die Ukraine ergreifen. (12) Dass das auf einen direkten Krieg mit Russland hinausläuft, daraus machen Vertreter Kiews keinen Hehl. Mitte Dezember erklärte der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates und einstige Übergangspräsident der Putsch-Regierung, Alexander Turtschinow, sein Land werde für einen möglichen Krieg gegen Russland die „mächtigste Armee Europas“ aufbauen.

„Unser Krieg endet erst, wenn das ganze Gebiet der Ukraine – einschließlich der Autonomen Republik Krim – befreit ist“, sagte Turtschinow. Zuvor gelte es natürlich, die Gebiete in der Ostukraine zu „befreien“. (13) Wie diese Befreiungsversuche konkret aussehen, davon konnten sich die Einwohner von Donezk am Sonntag und Montag erneut einen Eindruck verschaffen. Stundenlang wurde die Großstadt mit schwerer Artillerie belegt, darunter sollen auch Grad-Mehrfachraketenwerfer zum Einsatz gekommen sein. Die Anzahl der bei dem Beschuss getöteten Zivilisten ist unklar. Zuvor hatte Kiew drei Teilmobilmachungen für das kommende Jahr angekündigt. Die erste Mobilisierungswelle soll am 20. Januar beginnen und 50 000 Reservisten umfassen.

Nach dem schweren Beschuss von Donezk wurden die Kampfhandlungen an verschiedenen Frontabschnitten, unter anderem an dem von ukrainischen Truppen gehaltenen Donezker Flughafen, wieder aufgenommen. Vertreter der „Volksrepubliken“ hatten angekündigt, wieder schweres Kriegsgerät an die Front zu schaffen, das aufgrund der Minsker Vereinbarung zuvor abgezogen worden sein soll.

Zur Eskalation der Lage trägt der Tod von mindesten zwölf Zivilisten an einem Checkpoint nahe der Stadt Wolnowacha bei, die sich am Dienstag gemeinsam in einem Bus auf dem Weg von Mariupol nach Donezk befunden haben. Der Ort wird von ukrainischen Truppen kontrolliert. Kiew  und die Aufständischen wiesen sich gegenseitig die Schuld für den Vorfall zu. Die Darstellung der ukrainischen Regierung, wonach der Tod der Insassen durch den Beschuss von Grad-Raketenwerfern verursacht wurde, wird durch Videoaufnahmen gestützt.

Die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera zeigen, dass der Checkpoint, der zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht von Militärkräften besetzt war, von einer Raketen-Salve getroffen wurde. (14) Zwar ist der Bus auf den Aufnahmen nicht zu sehen, – ein späterer Schwenk zeigt, dass er sich im Rücken der Kamera befand, wenige hundert Meter entfernt von der Haupteinschlagsfläche – der im Video zu sehende Schatten einer aufsteigenden Explosionswolke aus Richtung des Busses belegt jedoch, dass dort zeitgleich die Explosion erfolgte, die zum Tod der Passagiere führte.

Sie starben nicht durch einen direkten Treffer, sondern durch Schrapnell-Wirkung, „übereinstimmend mit einem nahegelegenen Raketeneinschlag“, heißt es in einem OSZE-Bericht. (15) Bildmaterial zeigt, dass der Einschlag rund fünfzehn Meter seitlich des Busses erfolgt sein muss.

Die Rebellen verfügen über Grad-Raketenwerfer, der Checkpoint dürfte sich auch in deren Reichweite befunden haben – daraus ergibt sich zwar kein zwingender Schuldbeweis, Poroschenko nutzte jedoch die Gunst der Stunde, um die internationale Gemeinschaft aufzurufen, der Ukraine im Kampf gegen die Terroristen der „Volksrepubliken“ beizustehen. Nicht nur in der Ukraine schlagen die Wellen angesichts des Todes der Passagiere hoch – im Internet formierte sich kurz darauf die Kampagne „Je suis Wolnowacha“. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte am Mittwoch die Tat und forderte eine „objektive Untersuchung“. Auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow sprach sich für eine Untersuchung aus und forderte Kiew auf, den Zwischenfall nicht als Vorwand für eine neue Militäroperation gegen die Aufständischen zu missbrauchen. Die Chancen, dass sich die ukrainische Regierung diese Aufforderung zu Herzen nehmen wird, stehen jedoch schlecht – dieser Tage wird der Kalte Krieg wärmer.


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