Vom Nutzen des Waffenstillstands

KIEW/BERLIN
(Eigener Bericht) – Deutsche Außenpolitiker stellen eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland zur Debatte. Angesichts der neuen Eskalation der Kämpfe im Osten der Ukraine werde man „leider über schärfere Sanktionen reden müssen“, erklären mehrere Vertreter der transatlantischen Fraktion im deutschen Polit-Establishment. Die jüngste Eskalation in Donezk und Mariupol, für die Berlin umstandslos die ostukrainischen Aufständischen oder gar Moskau verantwortlich macht, folgt auf Mobilmachungs- und Aufrüstungsschritte der Kiewer Regierung, die Beobachtern zufolge auf eine bevorstehende groß angelegte Militäroffensive schließen lassen. Kiew leitet zudem die langfristige Militarisierung des Landes in die Wege: Jugendliche und sogar Kinder sollen in Zukunft nicht nur eine „national-patriotische Erziehung“ durchlaufen, sondern in der Schule auch „den Umgang mit Gewehren und der Kalaschnikow lernen“. Das Europaparlament hat vor wenigen Tagen die Lieferung von „Schutzwaffen“ an die Ukraine ausdrücklich befürwortet; Berlin hat derartige Ausfuhren bereits im vergangenen Jahr genehmigt. Ergänzend zur Ausweitung des militärischen Konflikts bereitet Brüssel nun auch eine umfassende Propagandakampagne vor.
Sanktionen auf der Tagesordnung
Mehrere Außenpolitiker der transatlantischen Fraktion des deutschen Polit-Establishments stellen eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland zur Debatte. Anlass ist die erneute Zuspitzung der Kämpfe in der Ostukraine und insbesondere der jüngste Beschuss der Hafenstadt Mariupol. Die Schuld an der Eskalation wird umstandslos und ohne nähere Begründung Moskau zugeschrieben. Brüssel dürfe „die aktuelle Eskalationspolitik des Kremls nicht unbeantwortet lassen“, erklärt der außenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Omid Nouripour; man müsse deshalb neue Sanktionen in Betracht ziehen.[1] Russland sei „der Kriegstreiber in der Region, weil es die Separatisten mit schweren Waffen, logistischer Hilfe und Treibstoff versorgt“, wird der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann zitiert: „Wenn die russische Regierung also nicht nachweisbare Fortschritte zur Deeskalation der Lage nachweisen kann“, dann werde man „leider über schärfere Sanktionen reden müssen“. Auch die CDU-Außenpolitikerin Elisabeth Motschmann sagt: „Die EU muss sich wieder mit dem Thema Sanktionen beschäftigen.“
Vor der Offensive
Der aktuellen Eskalation vorausgegangen waren umfassende Mobilmachungs- und Aufrüstungsschritte der Kiewer Regierung. Präsident Petro Poroschenko hatte angekündigt, rund 50.000 Wehrpflichtige im Alter zwischen 16 und 60 Jahren einzuberufen; sie sollten drei Wochen lang ausgebildet und dann umgehend an die Bürgerkriegsfront abkommandiert werden.[2] Weitere 50.000 Männer würden in einigen Monaten zur Armee eingezogen, teilte Poroschenko mit. Gleichzeitig übergab er den ukrainischen Streitkräften offiziell neues Kriegsgerät, darunter Sturmgewehre, Haubitzen, Schützenpanzer sowie Kampfflieger – und kommentierte dies: „So nutzen wir den sogenannten Waffenstillstand.“[3] Unter anderem aufgrund der Aufrüstung im großen Stil gingen Beobachter davon aus, dass Kiew eine groß angelegte Militäroffensive plane. Die jüngste Eskalation erfolgte nun nach dem bis heute nicht aufgeklärten Granatbeschuss eines Busses in Donezk, dem 13 Zivilisten zum Opfer fielen – die ostukrainischen Aufständischen sehen die Schuld bei Kiewer Regierungseinheiten – und nach dem Raketenangriff auf Mariupol, bei dem mindestens 30 Zivilisten zu Tode kamen; ihn schreibt Kiew den Aufständischen zu.
„Schutzwaffen“ und „Schulungsmissionen“
Bei ihrer Aufrüstung kann die Ukraine sich auf europäische und nordamerikanische Zulieferungen sogenannter nicht-tödlicher („non-letaler“), aber militärisch unverzichtbarer Ausrüstung stützen. Über solche Lieferungen ist schon mehrfach berichtet worden; auch Berlin hat im September 2014 bestätigt, die Prüfung diverser Anträge zur Lieferung militärischer „Schutzausrüstung“ bereits „mit positivem Ergebnis abgeschlossen“ zu haben.[4] Unlängst hat sich nun das Europaparlament dafür ausgesprochen, die EU solle „Möglichkeiten prüfen …, die Regierung der Ukraine beim Ausbau der Verteidigungsfähigkeiten und dem Schutz der Außengrenzen des Landes zu unterstützen“.[5] Dies sei möglich, da der Rat der EU „am 16. Juli 2014 das Waffenembargo gegen die Ukraine aufgehoben“ habe; „Einwände oder rechtliche Beschränkungen für die Lieferung von Schutzwaffen aus den Mitgliedstaaten an die Ukraine“ bestünden deshalb nicht. Ausdrücklich „unterstützt“ das Europaparlament „die derzeitigen Lieferungen nichtletaler Ausrüstungsgegenstände“; außerdem heißt es, die EU müsse „Schulungsmissionen“ für die ukrainischen Streitkräfte durchführen.
Orwell im Anmarsch
Die Aufrüstung der Ukraine soll durch umfangreiche PR-Maßnahmen begleitet werden. Wie das Parlament fordert, soll die EU-Kommission „binnen zwei Monaten eine Kommunikationsstrategie“ ausarbeiten, um „auf EU-Ebene wie auch in den Mitgliedstaaten“ gegen russische „Propaganda“ vorzugehen.[6] Kiew ist bereits einen Schritt weiter und hat – mit derselben Begründung – kürzlich ein „Informationsministerium“ gegründet, das weltweit auf scharfe Kritik gestoßen ist. Der neue Minister Juri Stez hatte zuvor rund zehn Jahre lang den privaten TV-Sender „Kanal 5“ des derzeitigen Präsidenten Poroschenko geleitet.
National-patriotische Erziehung
Ergänzend zu Aufrüstung und Mobilmachung im großen Stil hat die Kiewer Regierung inzwischen auch Schritte in die Wege geleitet, die auf eine langfristig angelegte Militarisierung des Landes zielen. Die Maßnahmen rufen selbst in deutschen Leitmedien, die ansonsten die neuen Machthaber der Ukraine stützen, ein gewisses Stirnrunzeln hervor. Dort wird berichtet, insbesondere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sei ein „leidenschaftlicher Verfechter der Intensivierung von Schulprogrammen zur ’national-patriotischen Erziehung'“ der Jugend. So setze er sich dafür ein, im Geschichtsunterricht solle „besonders von der steten Wehrhaftigkeit der ukrainischen Nation die Rede sein – von den Kosaken bis hin zur ‚Ukrainischen Aufständischen Armee'“.[7] Letztere kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Seite NS-Deutschlands gegen die Rote Armee und verübte Massaker an mehr als 91.000 Menschen meist polnischer Sprache und teils jüdischen Glaubens.[8]
Mit der Kalaschnikow in die Schule
Zudem sähen „neue volkserzieherische Richtlinien“, die Jazenjuk „zur Diskussion gestellt“ habe, „für die Oberstufe unter dem Stichwort ‚Heimatschutz‘ auch eine umfassende Ausbildung an der Waffe vor“. Jugendliche sollten „den Umgang mit Gewehren und der Kalaschnikow lernen“; zur Ausbildung gehörten zudem der „Einsatz von Gasmasken, der Umgang mit Handgranaten und die Aufklärung über verschiedene Minentypen“. Schon jetzt veranstalteten private Militaristenvereine „Freizeitcamps“, auf denen „ukrainische Mädchen und Jungen … schießen lernen und Kampfsportarten trainieren“: „Das tun sogar Grundschulkinder, die, gehüllt in ukrainische Militäruniformen, auf der Internetseite von Julia Timoschenko als Beitrag ihrer Partei zur Steigerung der nationalen Kampfmoral präsentiert werden.“ „Waffenausbildung für Jugendliche“ werde darüber hinaus „auch in Militäreinrichtungen angeboten“.[9] Bis zu ihrer Übernahme durch Russland sei dies auch auf der Krim üblich gewesen.
Milliardenkredite
Während Kiew die Militarisierung des Landes vorantreibt und, schon seit langem am Rande des Staatsbankrotts balancierend, seinen Militärhaushalt auf 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht hat (rund 4,8 Milliarden Euro) [10], unterstützen Berlin und die EU die prowestlich gewendete Ukraine nicht nur politisch, sondern auch finanziell: Nach Kreditgarantien in Höhe von einer halben Milliarde Euro, die Berlin kürzlich zugesagt hat, hat die EU-Kommission Darlehen in Höhe von fast zwei Milliarden Euro zugesagt. Von Einwänden gegen die dramatische Aufstockung des Militärhaushalts und gegen die allgemeine Militarisierung ist nichts bekannt.
Differenzen
Besteht in Berlin bezüglich der Unterstützung der Kiewer Kriegsfraktion Konsens, so zeigen sich dennoch Differenzen in der Beurteilung der Russland-Sanktionen. Starke Kräfte sind der Ansicht, man solle mit dem geschwächten Russland wieder besser kooperieren, um erneut ökonomischen Profit aus der Zusammenarbeit ziehen zu können. Die Einsetzung eines prowestlichen Regimes in Kiew und seine ansatzweise Stabilisierung reichten als geostrategischer Vorteil aus dem Konflikt vorläufig aus; eine umfassende Destabilisierung Moskaus sei nicht notwendig und derzeit nicht wünschenswert. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

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