17.05.2017
Die EU-Kommission hat am Mittwoch entschieden, die nächste Stufe im Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen bezüglich der Verteilung von Flüchtlingen zu zünden und dabei auch gegen die unrechtsstaatlichen Asyl- und Grenzgesetze vorzugehen. Orbán beharrt stur auf dem vermeintlichen „Volkswillen“, der gegen „eine muselmanische Invasion“ sei. Die EU will eigentlich nur Vertrags- und Rechtstreue sowie etwas Solidarität. Schwer einzufordern von einem Feind Europas und der Demokratie, der immer mehr Richtung Exit drängt. Worauf wartet man noch?

Die Kommission sandte eine formale Note an die Regierung in Ungarn, mit der Aufforderung den im Rat der Regierungschefs verbindlich beschlossenen Vereinbarungen zu folgen und seine Asylgesetze an EU-Normen anzupassen, andernfalls würden Sanktionen drohen, von Geldstrafen, über ein Gerichtsverfahren und – in diesem Falle, über ein Rechtstaatsprüfverfahren mit Perspektive zu einem Artikel-7-Prozess, was ein Novum in der EU-Geschichte darstellte. Ungarn könnte dabei sowohl unter Aufsicht gestellt werden, Stimmrechte sowie Zugang zu EU-Mitteln (Orbáns größter Albtraum, finanziert die Gemeinschaft ja großzügig seinen Mafiastaat) verlieren.
Beide Sachverhalte, also die Weigerung der Aufnahme von Asylbewerbern aus Italien und Griechenland sowie die neue Gesetzgebung vom März (Limitierung der Asylverfahren, Aussetzung von Rechtsstaatsnormen für diese Verfahren, Internierung aller Asylbewerber) sind miteinander verbunden, führen die ungarischen Rechtsnormen ja automatisch dazu, dass die EU Ungarn gar keine Flüchtlinge aus anderen Ländern überstellen kann, da die rechtlichen Gegebenheiten für ein faires, den Vorschriften entsprechendes Verfahren in Ungarn nicht gegeben sind. Aus diesem Grunde haben bereits mehrere Gerichte westlicher Demokratien Rückschiebungen nach Ungarn untersagt.
Die Kommission identifizierte drei Hauptpunkte, die nicht mit EU-Recht vereinbar seien: die Art und Weise der Asylverfahren (Direktive 2013/32/EU), die Regeln für die Abschiebung (2008/115/EC) sowie die Aufnahme- und Versorgungsbedingungen 2008/115/EC.
Wie das neue Grenz- und Asylregime konkret aussieht, wo Ungarn recht hat und wo nicht, lesen Sie hier.
Die Kommission begründet den nun ergriffenen nächsten Verfahrensschritt, einen vor der Anrufung der Gerichte, mit der Fruchtlosigkeit des „Meinungsaustausches auf politischer und technischer Ebene“, Verhandlungen, die Ungarn kürzlich einseitig abgebrochen hatte, was einen weiteren Affront gegen die Kommission darstellt.
Ungarn spricht Kommission Kompetenzen ab
Ungarn stellt sich auf den Standpunkt, dass man – zusammen mit der Slowakei und der Unterstützung Polens – die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens der Verteilungsregelung vor dem Europäischen Gerichtshof anfechtet. So lange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist – gerade erst fand eine erste Anhörung der Parteien statt-, also keine Klärung geschaffen wurde, hätte die Kommission kein Recht zu intervenieren und Ungarn daher auch nicht die Absicht auf deren Forderungen einzugehen. Das ist formal falsch.
Darüber hinaus beruft sich die Regierung in Budapest auf den „Volkswillen“, der entschieden hätte, dass „Ungarn keine Einwanderer will“ und daher auch keine Asylbewerber aus anderen EU-Ländern aufnehmen wird. Alles Übrige, was die EU-Kommission vorbringe, sei Soros-Propaganda und ein Aktionsplan der Linken, die Europa mit Muslimen fluten wollten, so Orbán kürzlich wörtlich vor den Kameraden der EVP. Diese Äußerungen sind freilich rechtlich völlig irrelevant, Ungarn hat sich den EU-Verträgen und -prozessen unterworfen und basta.
EU-Kommissar: Polen, Tschechien, Ungarn unsolidarisch
Der für Einwanderung und Flüchtlinge zuständige Kommissar Dimitris Avramopoulos drückte sich deutlich aus. Sowohl Ungarn als auch Polen hätte bisher „nicht eine einzige Person aufgenommen, die Schutz braucht“. „Ändert sich das nicht binnen eines Monats, werde man auf Sanktionen drängen“. Während „die Mehrheit der Mitgliedsländer Anstrengungen unternehmen, um echten europäischen Geist zu demonstrieren, zeigten andere Länder keinerlei Solidarität.“ Eine Warnung ging auch an Tschechien, das zunächst einige Flüchtlinge aufnahm, „seit einem Jahr aber keinerlei Aktivität“ zeige.
Ungarn: Eiserner Vorhang schützt Europa
Auch gegen den Vorwurf mangelnder Solidarität hat Ungarn seine „Argumente“. Man habe auf eigene Kosten für fast eine halbe Milliarde Euro Grenzzäune errichtet und das Militär und Polizei hochgerüstet, um „Ungarn und damit auch Europa vor dem Ansturm muslimischer Eindringlinge“ zu schützen. Das sei „echte Solidarität, die nicht geschätzt“ würde. Im Übrigen stoße Ungarns Asyl- und Grenzpolitik auf immer mehr Wertschätzung bei immer mehr Mitgliedsländern und es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Mainstream in Europa unter der Rebellion des Volkszorns (ebenfalls Orbán) einlenken müsse. Warum dann 66% der Ungarn für die EU sind – ein Rekordwert, das kann Orbán schlüssig nicht erklären-
Die Kommission hat nicht die Aufgabe, sich Diktaorengeschwafel anzuhören, sondern die EU-Verträge zu bewachen
Die Kommission lässt sich von derlei absurdem Endzeitgeschwurbel freilich nicht beirren, ihr Job ist es nicht, sich mit verhaltensauffälligen Möchtegerndiktatoren auszutauschen, sondern die EU-Verträge zu beschützen. Daher werde sie „ihre Macht einsetzen, wenn sich binnen einem Monat nichts ändert“, so Avramopoulos. Italien und Griechenland wurden seit September 2015 in Summe 18.418 Flüchtlinge abgenommen und auf 21 andere Mitgliedsstaaten verteilt, was allerdings weit hinter dem bis Herbst 2017 anvisiertem Ziel von 160.000 liegt. Auf Ungarn kämen lediglich rund 1.300 Flüchtlinge zu. Würde Ungarn – gemäß Dublin III – alle Flüchtlinge, die seit 2015 dort um Asyl angesucht haben, aber weiterzogen, zurücknehmen, würde man Ungarn sogar selbst Flüchtlinge abnehmen.
Die EVP bleibt in der Rolle des Beschützers Orbáns
Bemerkenswert und eine Schande für sich: die amtliche und hinreichend dokumentierte Gewalt an Flüchtlingen in Ungarn spielt bei den EU-Verfahren keine Rolle, offenbar, weil man Angst vor den Konsequenzen hat? Für ein Mitgliedsland, das die Menschenrechte permanent und per Gesetz – also Ermächtigung über die Grundrechte – verletzt, gäbe es nämlich in der EU nur eine Richtung, zum Ausgang. Im Parlament hat man das erkannt, immerhin schon vier Fraktionen verlangen diese Woche in einer Resolution Artikel 7, die EVP setzt dem freilich eine eigene Weichspül-Entschließung entgegen, um Orbán wieder einmal zu retten. Das wirft die Frage auf, ob die EVP-Parteien und ihre Europaabgeordenten so selbst noch auf dem Boden von Demokratie, Rechtstaat und EU-Verträgen stehen. Zwischen ihren Worten und Taten liegen nämlich keine Meilen mehr, sondern Welten.
red.
http://www.pesterlloyd.net/
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