Die schönsten deutschen Heimatsagen – Der Klabautermann

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Im Volksglauben ist der Klabautermann ein Kobold der Schutzpatron der Schiffe. Er hilft bei den Arbeiten an Bord – vor allem das „Kalfatern“. „Wenn er klopft, bleibt er, wenn er hobelt, geht er
Wenn ein Seemann ihn beim Verlassen des Schiffes sieht, ist es kein gutes Zeichen den es besagt: Das Schiff sinkt in kürze!

Der Klabautermann ist ein wackerer Geist,
Der alles im Schiff sich rühren heißt,
Der überall, überall mit uns reist,
Mit dem Schiffskapitän flink trinkt und speist,
Beim Steuermann sitzt er und wacht die Nacht,
Und oben in der Mars, wenn das Wetter kracht.

Sei die See auch groß,
Klabautermann lässt kein Ende los;
Er läuft auf den Rahen, wenn alles zerreißt,
Er tut, was der Kapitän ihn heißt.
Und wisst ihr, wie man ihn rufen kann?
C o u r a g e heißt der Klabautermann

Quelle:
Gedicht „Klabautermann
Paul Gerhard Heims, 1888

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Dort, wo die blauen Wogen der Ostsee die schneeweißen Kreideklippen der Insel Rügen umspülen, lag vor langer Zeit, zwischen Felsen eingezwängt, ein einsames, winziges Fischerhaus. Gleich dem Neste der Seeschwalbe war es hoch über dem Meeresspiegel erbaut. Keine noch so hohe Flut vermochte das Bauwerk zu erreichen, und darum konnten seine Bewohner ohne Sorge auf die entfesselten Wogen blicken, wenn der Sturm sie brandend gegen die Felsen schlenderte. Mochten sie sich noch so gierig recken und dehnen, so hoch reichte ihre Macht nicht. Lachend betrachtete Jan Classen, der Fischer, die vergeblichen Anstrengungen des Meeres, sein Heim zu vernichten, und die Wut, mit welcher die Wogen unverrichtetersache schäumend und brausend wieder zurückstürzten. Ja, solch ein Unwetter vom sicheren Ort aus zu beobachten und der Gewalt der Fluten zu spotten, das war Jans größtes Vergnügen. Dann stand er vor seiner Hütte auf dem Felsenvorsprunge, drückte die Lederkappe fest auf den Kopf und stemmte die harten braunen Hände in die Seiten. Sein sonst so gleichgültiges Gesicht schien Leben zu bekommen. In den festen Zügen mit den unzähligen Falten und Runzeln zuckte es wie Wetterleuchten, und seine Augen funkelten vor heimlicher Lust. „Ja, brülle nur, tobe nur“, schrie er in das Donnern des Meeres hinein, „mich sollst du nicht verschlingen! Mein Häuschen steht hoch, mein Kahn ist fest, und meine Hand hat Kraft genug, mein Fahrzeug zu zwingen!“
„Rede doch nicht so, Mann“, mahnte eine tiefe Frauenstimme. In der Tür der Hütte erschien eine hochgewachsene, kräftige Frau; auch ihr Äußeres zeigte, daß ihr harte Arbeit und Kampf mit Wind und Wetter zur Gewohnheit geworden waren. Aus ihren Gesichtszügen sprach ruhiger Ernst. Große blaue Augen blickten treuherzig-freundlich, die gerade, scharfgeschnittene Nase, der festgeschlossene Mund und das starke Kinn deuteten auf Willensstärke, indessen sich über das gebräunte Antlitz ein Ausdruck von Gutmütigkeit verbreitete. Gekleidet war sie in die dunkle Tracht, welche bei den Frauen Rügens üblich war. Zeugte der Anzug auch von großer Armut, so doch auch wiederum von peinlicher Ordnung und Sauberkeit.
Sie war einst ein hübsches Mädchen gewesen, die Helge, und viele junge Männer hatten sich um sie beworben, auch wohlhabendere als Jan Classen. Sie hätte nur zuzugreifen brauchen, und sie wäre des reichsten Bauern Weib geworden und hätte heute in teuren Kleidern mit goldenen Knöpfen einhergehen können. Ihre Mutter hatte ihr vergebens zugeredet, ihr Glück nicht von sich zu stoßen, und hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie erfuhr, daß Helge den wilden, unbändigen, jähzornigen Jan heiraten wollte. Dieser besaß nichts als einen Fischerkahn, und ein Häuschen wollte er sich erst von seinen Ersparnissen bauen, die er als Steuermann eines Kauffahrers erworben hatte. Und doch wurde es so. Allgemein bedauerte man, daß die brave Helge eine solche Wahl getroffen hatte, und die Mutter sagte ärgerlich: „Meinetwegen denn, wenn du dir einmal einbildest, daß du den wilden Menschen zähmen willst. Komme mir aber später nicht mit Klagen!“ Helge kam nicht mit Klagen, obgleich sie viel unter ihres Mannes Ungestüm und rohem Sinn zu leiden hatte.

Klabautermann

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Aber sie hatte ihn eben lieb und er sie auch.
Das Häuschen, welches Jan sich weitab von allen andern erbaut hatte, war wohl klein, doch nett und wohnlich. Helge wußte der sehr bescheidenen Einrichtung eine solche Behaglichkeit zu geben, daß es jedem wohltat, der in die kleine Stube trat. Aber nicht nur ihr kleines Hauswesen hielt sie in Ordnung; sie half ihrem Mann auch tüchtig bei der Arbeit. Sie fuhr mit hinaus zum Fischfang, trocknete und räucherte die Fische, strickte, flickte und wusch die Netze, kurz: Sie war eine richtige und echte Gefährtin ihres Mannes. Ja, und wenn er es auch nicht laut sagte, er empfand ihren Wert gut und ehrte und liebte sie in seiner barschen Weise. Er gab viel auf ihren Rat und ihre verständige Rede, wenn er ihr auch scheinbar niemals recht gab. Vielleicht hätte sich seine Rauheit noch gemildert, wenn die bunte Wiege, die ihnen als Hochzeitsgabe verehrt worden war, nicht leer geblieben wäre. Doch Jahr um Jahr ging dahin, und das Paar blieb allein. Kein helles Kinderlachen unterbrach die Stille der Hütte, kein Kindesauge strahlte Jan und Helge an. Und sie hätten sich beide unendlich gefreut, wenn ihnen solches Glück beschert worden wäre.
So schön das Häuschen gelegen war — es gewährte einen prächtigen Ausblick auf das weite Meer —, so gab es dabei doch einen Punkt, über den Helge mit ihrem Manne nie einig wurde, und das war die Nachbarschaft einer wunderbaren QueIle. Unweit der Hütte quoll klares, reines Wasser aus dem Felsen. Es war von einer merkwürdig blaugrünen Farbe, genau wie Seewasser, jedoch von süßem Geschmack. Als munteres Bächlein stürzte es sich über die FeIsen hinab in das Meer, mit dem es sich sofort verband. Jan hatte sein Haus mit gutem Bedacht in die Nähe dieser Quelle gebaut, da Trinkwasser sonst nur aus großer Entfernung zu beschaffen war. Es gab zwar den Herthasee in der Nähe; aber daraus mochte niemand Wasser für den Haushalt schöpfen.
Kurze Zeit, nachdem Helge als junge Frau in ihr neues Heim gezogen war, fiel es ihr auf, daß sich in der Quelle jedesmal ein sonderbares Brausen und Rauschen bemerkbar machte, wenn sie ihre Eimer dort füllte. Einigemal war es ihr vorgekommen, als ob ein wunderliches Gesicht sie aus dem klaren Wasserspiegel drohend angeblickt hätte, so daß sie erschrocken zurückfuhr.
Eines Tages wollte sie eben wieder zur Quelle gehen, da begegnete ihr der greise Knut, der Ziegenhirt, der wohl mehr als hundert Jahre alt sein mochte.
Als er sah, daß die Frau in der Felsenquelle Wasser schöpfen wollte, fiel er ihr entsetzt in den Arm und rief: „Was beginnst du, törichtes Weib, willst du mit aller Gewalt Unheil über dich und deinen Mann bringen? Weißt du nicht, daß diese QueIle der Eingang zur Wohnung des Klabautermanns ist?“
„Was sagst du“, stammelte Helge erschrocken, „hier wohnt der boshafte Wassergeist, der seine Freude daran hat, wenn die Schiffe ins Verderben stürzen?“
„Jaja.“ Der Alte nickte.
„Dein Mann weiß es recht gut; aber in seinem wilden Frevelmut hat er sich fern von allen Menschen trotzig hier angebaut.“
Helge überlief es eiskalt. Sie überlegte, daß sie ja, ihren ganzen Bedarf an Wasser von jeher aus dieser Quelle geschöpft hatte und daß ihr auch in Zukunft nichts anderes zu tun übrigblieb. Wie, wenn dies nun den Zorn dieses unheimlichen Wasserzwerges erregte, der von den Seeleuten so gefürchtet war? Hatte sie nicht oft erzählen hören, wie der Klabautermann, lachend seine Laterne schwenkend, auf dem Kiel des Schiffes hockte oder in den Rahen umherkletterte, wenn des Wetters Ungestüm das Schiff, das dem Untergang geweiht war, in seinen Fugen erbeben ließ? Wenn der Blitz den Mast zerschmetterte, wenn die wilden Wogen das Steuer entrissen, wenn das unglückselige Wrack dem Untergang nahe war und die Besatzung dem Wellentod entgegensah, dann jauchzte der Klabautermann, und bis zum letzten Augenblick verweilte er auf dem untergehenden Fahrzeug. Versank es endlich in den tosenden Fluten, so war der letzte Ton, der an die Ohren der Ertrinkenden schlug das gellende Gelächter des Klabautermanns. Und aus seinem Bereich war Helge gezwungen, Wasser zu holen! Natürlich hatte sie diese Tatsache sofort ihrem Manne mitgeteilt und ihn inständig gebeten, sich doch bei all den andern Menschen im Dorf ein neues Häuschen zu bauen. Gern wollte sie alle ihre Ersparnisse hingeben, um nur dieser gefährlichen, unheimlichen Nachbarschaft zu entgehen. Aber da war sie schön angekommen! Jan wollte über Helges Entsetzen schier platzen vor Lachen und rief: „Närrisches Weib, denkst du, ich weiß nicht, wer unser Nachbar ist? Das ist’s ja eben, was mir Spaß macht, daß uns der wunderliche Kauz Trinkwasser geben muß, er mag wollen oder nicht. Sei nicht so dumm, dich zu fürchten! Der Klabautermann ist kein so schlimmer Gesell, wie du glaubst. Ich habe Beispiele genug gehört, daß er Schiffer und Fischer sogar beschützt hat.“

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„Um so weniger hättest du seinen Unwillen herausfordern sollen“, entgegnete die Frau ernst. „Man muß die Bosheit nie herausfordern und die Gutmütigkeit nicht mißbrauchen. Warum störst du den Wassergeist in der Stille seiner Wohnung? Ich glaube nicht, daß es ihm gefällt, wenn ich den Eimer in die Quelle hinablasse.“
„Ach, Weibergeschwätz“, brummte der Fischer. „Wenn ihm meine Nachbarschaft nicht gefällt, mag er fortziehen!“
Helge seufzte. Sie wußte leider schon längst, daß ihr Mann niemals auf vernünftige Vorstellungen hörte, sondern nur seinem Eigenwillen folgte. Seit der Zeit ging sie mit Zagen und Widerwillen nach der Quelle. Viel lieber wäre sie drei Stunden nach dem Herthasee gegangen. Allein dessen Wasser war am Ufer oft trüb und schlammig. Sie schöpfte von nun an mit der größten Vorsicht und vergaß niemals, vorher hinabzurufen: „Bitte erlaube mir, ein wenig Wasser hier zu schöpfen.“ Alsdann war es ihr, als ob aus dem Wasserspiegel ein runzliges Antlitz zustimmend nickte.
Es war an einem sonnigen Sommernachmittag. Das Meer glitzerte ,und glänzte im Sonnenschein und murmelte leise wie ein Waldbächlein. Über ihm wölbte sich tiefblau die Himmelsdecke. Am Horizont flossen Himmel und Meer so innig zusammen, als ob man dort aus einem ins andere schreiten könnte. Helge war zur Quelle gegangen, hatte aber ihre Eimer hingestellt und saß nun, die Hände über dem Knie verschränkt, nachdenklich auf einem Felsenvorsprung. GedankenvoIl blickte sie in die Ferne. Dort draußen die weißen Punkte waren wohl die Fischerboote, bei denen sich auch Jan befand. Sie fühlte sich heute wieder einmal recht einsam. Die schwüle Stille wirkte niederschlagend auf ihr Gemüt. Es war so leer, so öde um sie. Warum war ihr nur das Glück nicht beschieden, ein Kindlein zu besitzen? Unwillkürlich hatte sie ihren Gedanken Worte verliehen; da, plötzlich ein Schrei, ein Platsch — und als sie sich erschrocken umsah, bemerkte sie, daß von dem steilen Abhang ein kleines Kind in die Quelle gefallen war. Diese war tief. Rasch und entschlossen beugte sich Helge über den Brunnenrand. In demselben Augenblick tauchte das Kind wieder empor. Sie erfaßte es, und mit einem kräftigen Ruck hob sie es hoch. Es war ein Knabe von vielleicht drei Jahren. Weder der Fall noch das Bad schienen ihm geschadet zu haben; denn er blickte seine Retterin mit hellen Augen an und lachte. Schön war er nicht, das mußte man sagen. Auf einem kleinen, schmächtigen, aber starkknochigen Körper saß ein großer, dicker Kopf, bedeckt mit langsträhnigem schwarzem Haar, das zottig in die breite, niedere Stirn hineinhing. Die gelbe Haut war straff über die hervorstehenden Backenknochen gezogen. Ein breiter Mund mit wulstigen Lippen ließ zwei Reihen mächtiger Zähne erkennen. Eine kleine, plumpe Nase gereichte dem Gesicht durchaus nicht zur Zierde, und nur die beweglichen grauen Augen verschönten dasselbe einigermaßen. Im Grunde bot der Junge den Anblick eines recht häßlichen, kleinen Ungetüms. Er schien überdies auch keineswegs von reicher Herkunft zu sein; denn das einzige Kleidungsstück, das er trug, war ein grobwollener, brauner Kittel. Seine krummen Beinchen waren unbedeckt.
Was fragt denn aber ein Frauenherz nach Schönheit, wenn sein Mitgefühl für ein hilfsbedürftiges Wesen erweckt wird! Frau Helge trocknete den armen Schelm mit ihrer Schürze ab und fragte ihn besorgt, ob er sich weh getan habe. Da riß der Kleine den Mund weit auf und schrie: „Nein, Purzelbaum ‚macht, bums, platsch!“ Dabei bezeichnete er den Vorgang so komisch mit Händen und Beinen, daß die Frau mitlachen mußte. Endlich fragte sie den Knaben, der es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte: „Wie heißt du denn, mein Söhnchen? Wer sind deine Eltern, und wo wohnst du?“

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Der Knabe schien aber gar nicht zu verstehen, was die Frau wissen wollte, sondern rief nur, vergnügt mit den Beinen strampelnd: „Bautzmann, Bautzmann!“
„Du kannst doch nicht Bautzmann heißen“, erwiderte verwundert Helge. Aber: „Oja, oja!“ beteuerte der Kleine lachend und zappelnd. Helge überlegte, was sie wohl mit dem Kind anfangen sollte. Es hatte etwas so Fremdartiges an sich und schien durchaus keine Auskunft über seine Angehörigen oder seine Heimat geben zu können. „Willst du mit mir kommen?“ fragte sie von neuem, und „ei ja, ei ja! Hunger, essen!“ antwortete der Kleine. Das ließ sich die Frau gesagt sein. Rasch füllte sie ihre Eimer, hob den einen auf die Schulter und hieß den Kleinen sich an der Hand festhalten, mit welcher sie den anderen Eimer trug.
Hei, wie der Junge mit den krummen Beinchen rennen konnte! Im Häuschen angekommen, holte Helge Ziegenmilch und Brot herzu, um den Hunger ihres Findlings zu stillen. Dieser war auf die Bank geklettert und stemmte die Ärmchen auf den Tisch, als ob er von jeher hier daheim gewesen wäre. In unglaublich kurzer Zeit hatte er die Speisen verzehrt; doch war er nicht so unbescheiden, noch mehr zu fordern, obgleich sich Helge erbot, ihm noch Milch und Brot zu holen. Er machte es sich bald bequem, streckte sich auf die Bank, legte den Kopf auf den Arm und schlief ein. Kopfschüttelnd betrachtete die Frau den kleinen Schläfer. Er war doch ein gar zu wunderliches Geschöpf. Was würde wohl ihr Mann zu dem kleinen Gast sagen?
Es wurde Abend. Helge war mit dem Zubereiten des Abendbrotes fertig und trat hinaus, um nach Jan auszuschauen. Da nahten die Boote schon. Flink lief sie zum Ufer hinab, um beim Landen zur Hand zu sein. Ihr Mann winkte ihr schon von weitem fröhlich zu und rief herüber: „Solchen Fang wie heute habe ich noch nie gemacht. Schau her, Weib, das Boot faßt die Fische kaum!“
HeIge schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Da galt es, sich zu rühren, um das Glück richtig zu nützen, damit die schöne Beute nicht verderbe. Vorläufig wurden die Fische in Fässer getan und für die Nacht an einen kühlen Ort gestellt. Morgen in aller Frühe sollte es an das Einsalzen oder Trocknen gehen. Die Sonne war bereits untergegangen, als Jan und Helge in die Stube traten, um sich das wohlverdiente Abendbrot schmecken zu lassen. Erst jetzt fiel es der Frau ein, daß sie ganz vergessen hatte, ihrem Mann von dem kleinen Ankömmling etwas zu sagen. Im Halbdunkel kollerte den Eintretenden ein sonderbares Etwas entgegen. Es war der kleine Junge, welcher ausgeschlafen hatte und nun zum Zeitvertreib Purzelbäume in der Stube schlug. Verwundert prallte Jan zurück; doch Helge erzählte kurz und bündig, während sie die Tranlampe anzündete, wie sie zu dem Kinde gekommen sei. Prüfend betrachtete der Fischer den wilden Knaben. Dann packte er ihn mit raschem Griffe beim Genick, stellte ihn auf die Beine und sagte: „Na, mal still, Knirps, muß doch sehen, was du eigentlich für ein Kerlchen bist.“
Der guckte ihn von unten herauf mit einer so komisch ernsthaften Miene an, daß Jan in lautes Lachen ausbrach und rief: „Gelt, Weib, gerade so hätte unser Söhnchen nicht ausschauen sollen. Ich werde morgen nach der Arbeit Umfrage halten, wohin der kleine Schelm gehört. Sollte sich jedoch niemand zu ihm finden, nun, so mag er eben bei uns bleiben.“ Ein listiger Blick schoß aus des Knaben Augen nach Jan und Helge. Diese jedoch bemerkten es nicht. Helge hob ihn auf die Bank, damit er an der abendlichen Mahlzeit teilnehme.

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Jans Nachforschungen nach des Kleinen Eltern und Heimat blieben erfolglos, obgleich er sie beharrlich wochenlang fortsetzte. Bautzmännchen zeigte auch gar kein Verlangen, wieder fortzukommen, sondern fühlte sich in Classens Hause ganz heimisch. Helge war dies recht. Sie hatte den Wildfang liebgewonnen. „Er sieht auch gar nicht so häßlich aus, wie es mir anfangs vorkam“, sagte sie zu ihrem Mann. Doch dieser schlug ihr lachend auf die Schulter und fügte hinzu: „Weil du dich bereits an den Kleinen gewöhnt hast!“
Wochen und Monate gingen dahin. Der Knabe, den man Klaus genannt hatte, weil Bautzmann doch gar zu sonderbar klang, brachte Leben in das eintönige Dasein Jans und Helges. Er tummelte sich auch sorglos außerhalb des Häuschens, kletterte mit den beiden Ziegen um die Wette oder bat den Fischer so lange, bis er ihn mit auf den Fischfang nahm. Dann hockte er auf der Spitze des Kieles, und wenn das Boot auf bewegten Wellen auf und nieder tanzte, schrie er lustig: „Hoioho, hoioho!“ Anfänglich war Jan ängstlich gewesen, das Kerlchen könne am Ende ins Meer fallen. Aber diese Sorge schwand bald; denn Klaus klebte wie eine Klette an dem Kahn. Und als er eines Morgens doch ins Wasser purzelte, sah Jan zu seinem höchsten Erstaunen, daß er schwimmen konnte wie eine Wassermaus. Das schien ihm doch nicht mit rechten Dingen zuzugehen, und bedenklich sah er den Jungen von der Seite an, als er wieder im Boot stand und wie ein nasser Pudel das Wasser abschüttelte. Bald aber beruhigte er sich. Er dachte: Der Klaus ist jedenfalls älter, als wir gemeint haben. Er ist nur so klein, und bei seinem häßlichen Gesicht läßt sich das Alter schwer bestimmen. Es ist schade, daß er darüber keine Auskunft geben kann.

Klabautermann von Bildwerk Bremerhaven

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Einige Tage später begleitete Klaus seine Pflegemutter, die eine Bütte voll Fische nach dem Markte trug. Unterwegs begegnete ihnen der alte Knut, der Ziegenhirt. Kaum hatte er den Knaben an Helges Seite erblickt, so fuhr er zusammen, als ob ihn eine Natter gestochen hätte. Starr sah er ihn an und hob warnend die Hand in die Höhe. „Woher habt Ihr denn den Jungen, Helge Classen?“ rief er aus. „Schafft ihn schleunigst wieder hin, wo Ihr ihn gefunden habt. Denkt an meinen Rat!“ Klaus war hinter die Frau getreten und schnitt dem Hirten eine fürchterliche Fratze, wobei er drohend die kleine Faust ballte. Doch dieser ließ sich nicht irremachen, sondern sagte mit erhobener Stimme: „Er scheint aus Holland zu stammen, man hört es an der Sprache. Jaja, dort gibt es Leute, die haben Wohnungen wie die Dachse und Füchse. Nur daß sie mit Wasser gefüllt sind und ihre Ausgänge an den Ufern aller Meere haben, damit sie bei der Hand sind, wenn Sturm und Wetter die Schiffe in Not bringen!“
Hätte jetzt Frau Helge Obacht auf ihren Schützling gehabt, so würde sie mit Entsetzen die Veränderung bemerkt haben, die mit ihm vorging. Die Füße schienen vor Wut den Erdboden zerstampfen zu wollen. Die Gesichtszüge waren verzerrt. Aus dem Munde fletschten die Zähne wie bei einem Raubtier, und die Augen schienen Flammen zu sprühen. Von alledem nahm die gute Frau jedoch nichts wahr. Sanft antwortete sie: „Wir haben das hilflose Kind aufgenommen, weil niemand es haben mochte, und bis jetzt haben wir keine Ursache, den armen Schelm wieder fortzujagen. Uns ist endlich ein Kind geschenkt worden, das wir liebhaben können. Nicht wahr, Klaus, du hast uns auch lieb?“ Bei den freundlichen Worten Helges hatten sich die Mienen des Knaben wieder aufgehellt, und jetzt antwortete er freundlich, nicht ohne einen Seitenblick auf Knut, der mit vorgestrecktem Kopf aufhorchte: „Ja, habe euch lieb; Bautzmann will bei euch bIeiben!“

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Bei dem Namen Bautzmann zuckte Knut zusammen, fuchtelte nochmals warnend mit seinem Stock in der Luft herum, sagte aber nichts mehr, sondern hinkte davon.
So war der Spätherbst gekommen. Das Wetter wurde von Tag zu Tag stürmischer und für die Fischer gefährlicher. Mit Sorge sah Helge oftmals ihren Mann hinausfahren auf die stürmische See. Sein alter Trotz und Übermut, die eine Zeitlang geruht hatten, brachen plötzlich mit Gewalt wieder hervor, und er achtete weder auf Bitten noch auf Warnungen. Seine Lust an der Gefahr überwog alle vernünftigen Vorstellungen. Auch den kleinen Klaus befiel eine merkwürdige Unruhe. Er kam oft den ganzen Tag nicht heim, und Helge lebte in fortwährender Angst, daß ihm ein Unglück widerfahren sei. Seit die schlimme Witterung eingetreten war, durfte er Jan nicht mehr beim Fischfang begleiten. Seine Bitten wurden rauh zurückgewiesen: „Das fehlte mir noch, auf einen unnützen Bengel aufpassen zu müssen, wenn man alle Hände voll zu tun hat, um mit Wind und Wasser fertig zu werden. Warte, bis du groß bist, dann kannst du mir helfen!“
Eines Tages rüstete sich Jan wieder zum Fischfang. Der Sturm heulte um die Hütte, als ob alle bösen Geister losgelassen wären. Dichte Nebel verhüllten das Meer. Die Sonne glich einem schwefelgelben Ball, der sich mühsam im Firmament fortwälzte. Als Jan das Boot klarmachte, war ihm Helge gefolgt. Sie war zum Mitfahren fest entschlossen, damit ihr Mann wenigstens jemanden in der Nähe habe, der ihm beistehen könne. Aber barsch und ungestüm hatte dieser ihre Hilfe zurückgewiesen. „Ich bin Manns genug“, schrie er ihr zu, „und ich brauche keinen Weiberbeistand. Du willst mich wohl gar retten, wenn es an Hals und Kragen geht? He? Da müßte ich mich ja schämen und auslachen lassen! Nein, du bleibst daheim. Punktum!“

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Als Jans Boot in den wallenden Nebelmassen verschwunden war, kehrte Helge tiefbetrübt ins Häuschen zurück. Eben schlüpfte Klaus mit einem listigen Lächeln zur Hintertür hinaus, als die Frau in die Stube trat und sich nach dem Knaben umsah. Es war ihr gar nicht lieb, daß auch er sich bei dem bösen Wetter umhertrieb. Wollte er es ihrem Manne nachtun? Der Tag schlich dahin. Gegen Abend hellte sich der Himmel etwas auf. Heute war Vollmond. In Helges geängstigtem Herzen stieg die Hoffnung auf, daß ihr Mann beim Mondenschein zurückkehren werde, wenn nur das Meer sich erst etwas beruhigte.
Auch Klaus war den ganzen Tag nicht heimgekommen. Wo trieb sich nur der Bub umher? Die Frau trat vor die Tür, um nach ihm auszuschauen. Siehe, da nahte der alte Knut. Er winkte und machte schon von weitem allerhand Zeichen, daß Frau Helge mit ihm kommen solle. Ein Schrecken durchfuhr sie. War ein Unglück geschehen? Knut ging eilenden Schrittes den steilen Weg hinab, der in das Tal führte, wo der Herthasee lag. Immer winkend, rief er Helge halblaut zu: „Geschwind, geschwind, daß wir unten sind, wenn der Mond aufgeht. Da werdet Ihr sehen, was Ihr mir nicht glauben wolltet!“
Der Frau klopfte das Herz. Was sollte sie nur erfahren? Jetzt waren sie angekommen. Knut faßte sie bei der Hand und zog sie hinter einen Felsvorsprung von dem aus man ungesehen das Tal beobachten konnte. Alles lag still. In wunderlichen Formen und Gestalten wallten die Nebelschleier durcheinander. Ein fahles Licht ließ alles noch unheimlicher erscheinen. Aus dem sumpfigen Boden am Rande des Sees tauchten zahllose Irrlichter auf. Leuchtende Dünste durchzogen die Luft. Es war ein Leben und Treiben, das unheimlich aussah. Plötzlich erschien den Mond über den Hügeln, und sofort veränderte sich das Bild.

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Den Abhang herab schritt Hertha, eine große weißgekleidete Frau. Weithin wallte ihr goldblondes Haar gleich einem mächtigen Schleier. Ihre großen blauen Augen strahlten in mildem Glanz; doch über ihrer ganzen Erscheinung lag der Ausdruck tiefer Trauer. Als sie am See angekommen war, umringten sie zahllose weibliche Wesen, die aus den Nebeln entstanden waren. Sie brachten einen goldenen Wagen herbei, den sie vorher im See gewaschen hatten. Aber siehe, er war morsch, und die Speichen seiner Räder waren zerbrochen. Im wogenden Reigen zogen sie den Wagen hinweg, und nun umtanzten Kobolde und Erdgeister die betrübte Frau, die teilnahmslos am Seeufer saß und nach dem stillen Monde blickte.
Da veränderte sich das Bild. Mitten auf dem See kam ein sonderbares Wesen in einem Muschelwagen gefahren. Beinahe hätte Helge laut aufgeschrien und „Klaus!“ gerufen, wenn ihr nicht zu rechter Zeit Knut die Hand auf den Mund gelegt hätte. Das Männchen sah aber durchaus nicht kindlich aus, sondern trug einen langen, dunklen Bart, auf dem Kopf eine Lederkappe und war nach Art der holländischen Schiffer gekleidet. In der Hand hielt es eine weithin leuchtende Laterne, weIche es lustig im Kreise schwang. Vor der weißgekleideten Frau machte es halt, verneigte sich und schien ihr leise etwas mitzuteilen, wobei es mehrmals nach der Richtung deutete, in der Classens Hütte lag. Ein Schimmer von Heiterkeit überflog Herthas Gesicht, als sie den Kleinen abschiednehmend freundlich grüßte. Dieser lenkte alsbald seine Muschel nach der Mitte des Sees, wo er versank. In diesem Augenblick kamen düstere Wolken und verhüllten den Mond. Im Nu verschwanden auch die übrigen Gestalten auf dem Herthasee sowie Hertha selbst. In der Luft ertönte ein dumpfes, entsetzliches Brausen, und mit doppelter Gewalt brach das Unwetter wieder los. Helge war regungslos. Ihr wirbelte der Kopf von dem Gesehenen. Der Schrecken nahm ihr den Atem und ließ sie keinen Gedanken fassen.
Da packte Knut sie am Arm und rief: „Wißt Ihr nun, wen Ihr bei Euch aufgenommen habt? Habt Ihr den Klabautermann erkannt?“ HeIge konnte nicht antworten. Sie nickte nur stumm und ließ sich willenlos von dem Hirten hinwegziehen. Es war schwer, das Häuschen zu erreichen; denn die Naturgewalten schienen sich verschworen zu haben, den entsetzlichsten Reigen aufzuführen. Das Meer brüllte und schleuderte Wogenberge brandend gegen die Felsen, als ob es das Eiland vernichten wollte. Jammernd rang Helge die Hände; denn aus diesem Aufruhr der Natur kehrte wohl ihr Mann nimmer zurück.

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Voll Trotz und sehr befriedigt, sein Weib zurückgewiesen zu haben, segeIte Jan hinaus auf die See. Obgleich Wind und Nebel für den Fischer keine Verbündeten sind, senkte er doch die Netze ins Meer. Er hatte aber heute entschieden Unglück. Zuerst geriet das Netz an eine Klippe, und es war noch gut, daß es völlig zerriß; denn beinahe wäre durch die Gewalt des Rucks das Boot gekentert. Während Jan damit beschäftigt war, das Netz aus dem Wasser zu ziehen, legte sich der Wind in das Segel, und von neuem kam das Schiff in Gefahr umzuschlagen. Jan arbeitete aus Leibeskräften, um das Segel zu reffen; denn der Sturm erhob sich immer mehr. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm endlich. Dichter und kälter umgaben die Nebelmassen den einsamen Fischer. Kaum konnte er die blendendweißen Schaumkämme der heranstürzenden Wogen erkennen. Doch der wetterharte Mann verzagte nicht. Mit eiserner Faust hielt er das Steuer und lugte scharf aus, daß er vor dem Winde blieb. Allerdings sagte er sich, daß er auf diese Weise keine Aussicht hätte, wieder in die Nähe der Heimatinsel zu gelangen, sondern vielmehr auf das weite Meer hinaustrieb. Mittag war vorbei, als sich der Wind einigermaßen legte und hier und da ein Riß in der Nebelwand entstand. Eiligst hißte Jan das Segel auf, und durch Kreuzundquerfahrt hoffte er, die Rückkehr noch vor dem Dunkelwerden bewerkstelligen zu können. Es sollte ihm nicht gelingen. Der Sturm schien nur Atem geholt zu haben; denn als der Abend nahte, erhob er sich mit erneuter Gewalt. Gleichzeitig brach eine dichte Finsternis herein, und der unglückliche Fischer sah sich rettungslos dem empörten Meere preisgegeben. Vergebens kämpfte er mit Aufbietung seiner letzten Kräfte in Todesangst um sein Leben. Längst waren ihm das Spotten und das Trotzen vergangen. Noch einmal durchbrach der Vollmond die Wolken und den Nebel; dann wurde es wieder tiefe Nacht. Stumpf und starr, nur noch krampfhaft das Steuer umklammernd, hockte Jan in seinem Boot. Da, plötzlich, was war das? Welch sonderbarer Lichtschein? Was kauerte denn da vorn auf dem Kiel? Dem Fischer lief es eiskalt über den Rücken, als er erkannte, daß es ein zwerghaftes Männchen mit einem langen Bart war, welches eine Laterne im Kreise schwang und gellend dazu lachte. „Der Klabautermann!“ murmelte der erblassende Jan.

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„Ja, der Klabautermann!“ kreischte der Kleine. „Erkennst du mich nicht?“
„Klaus, Bautzmann!“ rief entsetzt der Fischer.
„So ist’s“, entgegnete der. „Ich bin Helges und dein Pflegesohn. Euch zu prüfen, kam ich in euer Haus. Jetzt siehst du nun, eigenwilliger, hochmütiger Mensch, wohin dich dein wilder Trotz geführt hat.“ Jan vermochte nicht zu antworten. Seine Zähne schlugen klappernd gegeneinander, und die helle Verzweiflung malte sich auf seinen Zügen. Seine schlotternden Beine trugen ihn nicht mehr. Kraftlos sank er in sich zusammen, und seinen Händen entglitt das Steuer. Hei, wie das befreite Schifflein nun auf den turmhohen Wogen tanzte; ein lustiges Spiel, wenn es nur nicht so verderblich gewesen wäre! Des Fischers Übermut war gebrochen. Er ergab sich in sein Schicksal und erwartete den Tod, den er selbst heraufbeschworen hatte. „Klaus“, bat er mit leiser, demütiger Stimme, „ich habe mein Los verdient. Wenn es aber noch eine Gnade für mich gibt, so bitte ich dich: Grüße mein armes Weib, tröste sie und verlasse sie nicht!“
Der Kleine hob seine Laterne empor und leuchtete dem Mann ins Gesicht. Nachdem er ihn durchdringend angesehen hatte, rief er. „Will sehen, was sich für dich tun läßt.“ Und für sich setzte er hinzu: „Diese Lehre wird er nicht vergessen!“ In demselben Augenblick raste eine Riesenwelle heran, und — verschwunden war das kleine Fahrzeug mit seinen Insassen.
Am andern Morgen ging die Sonne fröhlich und heiter auf, gerade als ob niemals ein Unwetter sie verdunkelt hätte. Das Meer murrte noch ein wenig, die Wellen schlugen noch unruhig gegen den Strand; aber die unendliche Wasserfläche machte einen friedlichen Eindruck.
In Classens Hütte war es still. Helge saß vor dem großen Bett, dessen buntgeblümte Vorhänge zurückgeschlagen waren, und blickte besorgt auf ihren Mann, der mit verbundenem Kopf in den Kissen lag und im Fieber irre redete. Sie beachtete die eigene Erschöpfung nicht. Hatte sie doch die ganze Nacht in Sturm und Graus am Ufer gestanden und in Angst auf ihren Mann gewartet. Beim Morgengrauen hatte sie auf einmal ein kreischendes „Hoioho“ vernommen. Gleich darauf spülte eine Welle mit dumpfem Krach ein Boot ans Ufer, in dem sich, mit einem Seil an die Ruderbank festgeschnürt, Jan befand. Voll Schreck und doch voll Jubel hatte Helge ihren Mann losgeknüpft. Freilich gab er nur schwache Lebenszeichen von sich und blutete aus einer Kopfwunde; aber die brave Helge hob ihn auf und trug ihn in die Hütte. So befand sich nun der Fischer in treuer Pflege, und nach wenigen Tagen hatte das gute Weib die Freude, ihren Mann genesen zu sehen.
War dies aber noch ihr wilder Jan? Er war wie ausgewechselt. Ernst und sanft, ruhig in seinem ganzen Benehmen, konnte sie ihn kaum wiedererkennen. Er bemerkte das freudige Erstaunen seiner Frau und benützte die erste Gelegenheit, als sie abends bei der Lampe behaglich beisammensaßen, ihr die Erlebnisse seiner letzten Schreckensfahrt zu erzählen. Am Schlusse reichte er ihr die Hand und sagte: „Von nun an will ich ein anderer werden. Nie wieder werde ich mich mutwillig in Gefahr begeben. Wir wollen uns im Dorf bei all den andern Menschen anbauen, dann werden wir auch den Klabautermann in Zukunft nicht mehr belästigen.“ Wie froh war Helge über diesen Entschluß!
Sie erzählte, was sie mit Knut gesehen hatte, und Jan hörte ihr voll Staunen zu.
Im nächsten Frühjahr wurde im Dorf ein neues Häuschen erbaut. Es gehörte Jan Classen. Schon im Spätsommer konnte das glückliche Ehepaar einziehen. Hier sollte ihnen auch eine Freude zuteil werden, die ihnen bisher versagt geblieben war; denn im Herbst lag ein prächtiger Junge in der bunten Wiege. Von nun an wurde ihr Glück durch nichts gestört.
Den Klabautermann sahen sie nie wieder. Sein Andenken aber hielten sie in Ehren und litten nicht, daß man ihn einen boshaften Wassergeist schalt.

Text: http://www.udoklinger.de/

Die schönsten deutschen Heimatsagen – Die schöne Melusine und das Schloß Staufenberg

Die Melusinensage von Schloss Staufenberg

Egenolf von Staufenberg schrieb das mittelalterliche Heldenepos über den Ritter Peter Diemringer von Staufenberg um 1310.

Schauplatz der Legende ist Schloss Staufenberg in der Ortenau. In 1192 mittelhochdeutschen Versen faßte Egenolf zusammen, was er beim Schein der Kienfackeln, als Knabe noch, im Rittersaal, aus dem Munde fahrender Sänger und seiner Vorfahren vernommen und auch über den Heros der Staufenberger Geschlechter geschrieben fand.

Einst wollte Ritter Peter mit seinem Knappen nach Nußbach zur Kirche reiten. Unterwegs sah er auf einem Steine sitzend, eine wunderschöne Frau, ein Bildnis, wie Knappe und Ritter es nie gesehen. Ein herrliches Kleid aus köstlich Parma-Seide, in Gold gestickt, überm Herzen ein Geschmeide so reich , inmitten ein Karfunkel ohnegleich, zierte die  Frau.

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Des Ritter Peters Herz war  hoch entzückt. Die schöne Frau erzählte ihm, daß sie ihn erwartet habe und ihn auch seit vielen Jahren bei Turnieren und Kämpfen, ja sogar bei seiner Kreuzritterfahrt zum heiligen Grab begleitet und beschützt habe.

Der Ritter wollte nun die schöne Frau nicht mehr missen und bat sie gleich um ihre Hand.

„Wo immer du es wünschest, und ganz alleine bist, will ich zu dir kommen. Doch du darfst kein ander Weib dir ehelich nehmen sonst wirst du innerhalb von drei Tagen sterben“, gab ihm die Melusine auf seinen Wunsch zur Antwort. Ritter Peter willigte ein und gelobte bei Gott und seinem Leben ewige Treue.

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Viele schöne Stunden verbrachte der Ritter mit Melusine sobald und so oft er sie herbeisehnte. Der tapfere Recke war bekannt in vielen Ländern und manche schöne Frau von edlem Geschlecht begehrte sein Herz.

Als Ritter Peter nach langer Zeit wieder auf Schloss Staufenberg kam, rieten ihm seine Brüder und Freunde, doch endlich ein ehlich Weib zu nehmen. Der Ritter sprach: „Gern würd ich tun, was ihr gebietet, doch würde ich mich eher in Riemen schneiden lassen als ein ehlich Weib zu nehmen.“ Melusine warnte den Ritter nochmals eindringlich und erinnerte ihn an seinen Schwur.

Eines Tages war zu Frankfurt ein großes Turnier. Der König fand Gefallen an dem tapferen Recken und trug ihm seine Base zur Frau und große Ländereien  an. Bedrängt von allen Seiten erzählte der Ritter, daß er bereits ein Weib habe und wie es sich mit Melusine zutrug. Die Herren ringsum und ein alter Kaplan rieten ihm von Melusine zu lassen, da diese nur des Teufels sein könne. Derart bedrängt und verwirrt, vergaß er, was er seiner Liebsten versprochen hatte, und die Base des Königs wurde ihm zur Hochzeit auf Schloss Staufenberg geschickt.

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Ein letztes mal vor der Hochzeit erschien ihm Melusine und verkündete ihm: „Sobald die Hochzeit du wirst wagen. Mein Herz dies nimmer kann ertragen, ich sag´ dir was geschehen muß: ich lasse sehen meinen Fuß vor alle die zugegen sind, sobald dein Hochzeitsfest beginnt: Wenn eure Augen das erblicken, nicht säume, nach dem Priester zu schicken, zur Beichte noch hast du die Zeit, zu rüsten für die Ewigkeit, nach der Heil´gen Wegzehrung sollst du verlangen und auch das heilige Öl empfangen. Zur rechten Zeit tu, was dir not, dein Seel´befehl dem Herrn Gott!

Als nun die Hochzeit gefeiert wurde und alle froh bei Tische saßen, da sah man fast ohne Laut, wie etwas durch die Decke stieß.Ein Menschenfuß wurde sichtbar, entblößt bis an das Knie, umgeben von einem lichten Schein. Da schrie der Ritter auf , begann sich die Haare zu raufen und rief: „O weh, o weh mir armen Mann. Ihr habt mich und euch verderbt, wir sind nun allen Glücks enterbt, und nach drei Tagen bin ich tot!“

Melusines Geheimnis enthüllt, aus Le Roman de Mélusine. Eins von sechzehn Bildern des Guillebert de Mets, circa 1410. Original im Besitz der Bibliothèque nationale de France.

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Das Fest hörte auf und Ritter Peter schickte nach dem Pfarrer um seine letzte Beichte abzulegen. Seine ihm vermählte Frau befahl er in die Obhut seiner Brüder und beschloss sein Leben. Große Trauer und Klage war im ganzen Land. Die leidgeprüfte junge Frau vollendete ihr Leben in einem Kloster.

Text Josef Werner

nach den Unterlagen von E.R.Preiser

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Wappen der Familie Stauffenberg

schloss-greifenstein.de

dentapress.de

Im Schloß Staufenberg unweit des Weinortes Durbach wohnte einst ein Amtmann, dessen Sohn Sebald Vogelsteller war. Als der Jüngling wieder einmal im Stollenberger Wald seine Liebhaberei betrieb, hörte er einen lieblichen Gesang. Er ging bergauf den klangvollen Tönen nach. Da erblickte er im Gebüsch ein wunderschönes Weib. Flehend schaute es den herantretenden Jüngling an und rief: „Schon lange harre ich deiner. Ich bin verwünscht. Erbarme dich meiner und erlöse mich! Du brauchst mich nur dreimal dreifach zu küssen, dann bin ich erlöst.“
Auf Sebalds Frage, wer sie sei, antwortete die Waldfrau: „Ich heiße Melusine und habe einen großen Brautschatz. Wenn du mich erlöst, bin ich mit meinem Schatze dein. Du mußt mich drei Morgen hintereinander, früh um neun Uhr, auf beide Wangen und den Mund küssen. Dann ist die Erlösung vollbracht. Fürchte dich nicht, besonders nicht am dritten Tag!“
Melusine trat dann aus dem Busch hervor, und Sebald konnte sie genau betrachten. Sie war sehr schön, blond und hatte blaue Augen, aber keine Finger. Statt ihrer sah man eine trichterförmige Höhlung und an Stelle der Beine Fischschwänze. Sebald gab ihr zunächst die ersten drei Küsse. Darüber war Melusine sehr erfreut und bat ihn, am zweiten und dritten Tag ganz bestimmt wiederzukommen. Dann kroch sie in ihren Busch zurück und sang:
Kommt und erlose deine Braut, Hüte dich wohl zu erschrecken! Sebald, nimm dich wohl in acht! Einmal war es recht gemacht.
Nun verschwand sie, Sebald ging heim, sagte aber nichts von seinem Erlebnis. Am andern Morgen eilte er in den Stollenberger Wald; Melusine sang wie tags zuvor, und er näherte sich ihr. Diesmal hatte sie jedoch Flügel und einen Drachenschweif. Trotzdem trat er furchtlos auf sie zu und küßte sie dreimal. Sie bedankte sich wieder wie am ersten Tag und versank in die Erde. Am dritten Tag hatte sie einen scheußlichen Krötenkopf, und ein Drachenschwanz umschlang furchtbar ihren Leib. Da erfaßte Sebald ein Grauen vor dem giftdräuenden Ungeheuer, und er rief abwehrend: „Kannst du dein menschliches Antlitz nicht entblößen, so kann ich dich nicht küssen.“
„Nein!“ rief Melusine und streckte mit lautem Schrei ihre Arme nach ihm aus. Da floh Sebald, von Entsetzen gepackt, den Berg hinunter. Atemlos kam er bei seinem Vater in der Burg an. Als er nun sein Erlebnis erzählte, wurde er vom Vater wegen seiner Furchtsamkeit gescholten.
Zwei Jahre vergingen. Sebald suchte den Stollenberger Wald nicht mehr auf, denn er fürchtete die Rache der von ihm betrogenen Waldfrau. Auf Wunsch seines Vaters heiratete er die Tochter eines Amtsvogtes. Die Hochzeit wurde im Schloß Staufenberg abgehalten. Als aber die Gesellschaft fröhlich beim Schmause saß, spaltete sich die Decke des Saales, und ein Tropfen fiel auf Sebalds Teller. Sebald aber hatte es nicht bemerkt und aß weiter. Da fiel er plötzlich tot nieder. Zu gleicher Zeit zog sich ein kleiner Schlangenschwanz in die Decke zurück.
So rächte sich die verzauberte Melusine an dem Mann, der ihre Hoffnung auf Erlösung enttäuscht hatte.

Staufenberg castle

dailypano.yakohl.com

Veröffentlicht am 12.02.2014

Die schöne Melusine und das Schloss Staufenberg
The beautiful Melusine and the castle of Staufenberg. German legend
from Durbach — Baden Baden
Erzählt von Monika Klose in der Märchenstunde: Frauen, die sich trauen
Told by Monika Klose in her session: Women who dare
Gefilmt von Toni Nottebohm
Im Goethe-Institut Barcelona 20.12.13

Von Göttern und Helden – Nordische Mythologie in Wagners „Ring des Nibelungen“

 

Richard Wagner Bildquelle: en.wikipedia.org

 

von Doris Schweitzer

 

„Wir, unserer eigenen Vorzeit fremd geworden,
können nur täppisch versuchen,
die Natur mit dem Alten zu verknüpfen.“

Jakob Grimm, 1841

Die Mythen des klassischen Altertums gleichen einem reich ausgestatteten Museum. Eine Vielzahl von Überlieferungen zeichnet ein detailreiches Bild von den alten Göttersagen. Ganz anders verhält es sich mit der Mythologie des Nordens. Sie gleicht eher einem Koffer mit alten Bildern, deren Konturen verschwommen sind. Vieles in der Überlieferung ist nur angedeutet. Es sind weit in die heidnische Zeit zurückreichende Vorstellungen und Motive, von denen in der Edda erzählt wird, doch auch das christliche Mittelalter hat Spuren in diesen Geschichten hinterlassen, die größtenteils kulturelles Gemeingut einer christlichen Gesellschaft waren. Im 13. und 14. Jahrhundert hat man in Island jene Mythen aufgeschrieben, die im übrigen Nordeuropa noch als mündliche Erzählungen im Umlauf waren. Es handelt sich hierbei nicht um germanische Mythen, die die Glaubenssubstanz der Germanen enthalten, sondern um die Geschichten, mit denen sich die Skandinavier ihre Welt – die kulturelle ebenso wie die natürliche – erklärt haben.

Überlieferungen von der Entstehung der Welt, der Götter und des Menschen, von den Konflikten innerhalb der Götterwelt, den Kämpfen der Götter gegen ihre Widersacher oder auch von Reisen in die Anderswelt. Von all diesen Dingen erzählen die beiden Eddas, die ältere Edda oder Lieder-Edda und die Edda des Snorri Sturluson. Im Zuge der Christianisierung wurden die Göttergeschichten von der mündlichen in die schriftliche Tradition überführt. Dies geschah in nennenswertem Umfang nur in Island. Aber auch dort fand keine literarisch-künstlerische Weiterverarbeitung statt, die sich auch nur annähernd mit der antiken Mythenadaptionen vergleichen ließe. Die weit verbreiteten Kenntnisse der römischen Götterwelt im mittelalterlichen Island dürften aber auch bei der Snorra Edda eine Rolle gespielt haben.

Man kann die Zeugnisse der nordischen Mythologie, die fast ausschließlich aus Island stammen, in drei Gruppen unterteilen. Die Lieder-Edda ist eine Sammlung von lose zusammenhängenden Texten und Gedichten. Kern dieser Sammlung bildet eine als „Codex Regius“ bekannte Handschrift, die jahrhundertelang in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen aufbewahrt wurde, bevor sie 1971 in ihre isländische Heimat zurückkehrte. Der „Codex Regius“ wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschrieben und umfasst 29 Lieder, von denen 11 mythologische Themen aufgreifen. Bei den übrigen stehen Helden und Heldinnen des germanischen Altertums im Mittelpunkt. Der Entstehungsort und die Entstehungszeit der Eddalieder lassen sich nicht nachweisen.  Die zweite der großen Sammlungen mythologischer Stoffe ist die Prosa-Edda von Snorri Sturluson. Mit der Skaldik existiert noch eine andere Gruppe, in der mythologische Gegenstände verhandelt werden. Die wikingerzeitliche Preisdichtung weist eine der kompliziertesten Versmaße der Weltliteratur auf, denn neben der Silbenzählung müssen auch Betonungen und Stabreime im Rahmen einer genau festgelegten Struktur berücksichtigt werden. In der Regel werden in den Skaldendichtungen Mythen allerdings nicht wiedergegeben. Mythische Elemente kommen nur in metaphorischen Umschreibungen vor. Die zentrale Funktion der Skaldik ist der Fürstenpreis. Die Überschneidungen und Zusammenhänge zwischen den Gattungen sind jedoch beträchtlich. So stehen in Snorris Edda etwa 60 typischen Eddastrophen rund 400 Skaldenstrophen gegenüber.

Snorri Sturluson (1179-1241) gilt nicht nur aufgrund der Edda, sondern auch dank seiner etwas späteren entstandenen Geschichte der norwegischen Könige, der „Heimskringla“ als der bedeutendste Autor des skandinavischen Mittelalters. Eine wichtige Rolle spielte er auch bei den Kämpfen um die Vorherrschaft auf Island. Sein Ziehvater Jón Loptsson war für seine Gelehrsamkeit und sein umfassendes Geschichtswissen berühmt. Sein Hof galt als das herausragende Bildungszentrum in Island. Snorri hielt sich oft am norwegischen Königshof und in Schweden auf. Schon in jungen Jahren machte er sich als Dichter einen Namen. Seiner Thinghütte gab er den Namen Walhall. Die Edda entstand wohl in den Jahren nach seinem ersten Norwegenaufenthalt 1219. Die vier Haupthandschriften sind allerdings deutlich jünger. Die um 1300 angefertigte, nach ihrem Aufbewahrungsort „Codex Upsalienus“ genannte Schrift nennt als einzige sowohl den Titel „Edda“ als auch den Verfasser Snorri. Der um 1600 geschriebene „Codex Trajectinus“ (Buch von Utrecht) besteht nur aus den drei Bestandteilen, die man als Snorra Edda definiert hat: dem Prolog, der „Gylfafginning“ (König Gylfis Blendung), in dem die heidnischen Götter systematisch geschildert werden, den „Skáldskaparmál“(Sprache der Dichtkunst) eine Zusammenstellung von skaldischen Zitaten, die bis ins 9. Jahrhundert reichen und heidnische wie christliche Texte umfassen.  Das „Háttatal“ (Verzeichnis der Versarten) ist ein Preisgedicht, dass Snorri auf den norwegischen König Hákon Hákonarson verfasste.  An wichtigen Mythenstoffen enthalten die „Skáldskaparmál“ die Kämpfe Thors gegen die Riesen Hrungnir und Geirröd, sowie die Herstellung der Götterkleinodien wie Thors Hammer „Mjöllnir“, Odins Speer „Gungnir“ oder Freys Schild „Skidbladnir“ durch die kunstfertigen Zwerge. Auch der mythische Ursprung des Nibelungenschatzes wird behandelt, den die Skalden besonders gern erwähnen, um den Reichtum und die Freigiebigkeit ihrer fürstlichen Mäzene zu loben. In vielen Fällen ist nicht bekannt woher Snorri den Stoff für seine Geschichten fand, wahrscheinlich benutzte er ausführlich Quellen, die aus Volkerzählungen und alten Sagen bestanden.

Die Edda besteht nicht nur aus Götter-, sondern auch aus Heldenliedern, wobei letztere deutlich überwiegen. Viele Heldensagen des Nordens sind von mythischen Elementen durchsetzt. Meist handelt es sich dabei um Odin oder um Disen, Fylgien oder Walküren, also jene Wesen, die sowohl als Schutzgeister auf dem Schlachtfeld fungieren, als auch den Tod bringen können. Da Heldenschicksale meist tragisch enden, werden im „Helgilied“ gleich zu Beginn die Nornen beschworen, die „mit Macht die Schicksalsfäden spinnen“. Die Schicksalsfrauen Urd, Werdandi und Skuld aus der „Völuspá“ identifiziert Snorri mit den Nornen, die in einer Halle am Urdbrunnen unter der Weltesche wohnen. Das Urteil der Nornen bedeutet stets den Tod, sie haben also viel gemein mit den Walküren, die die Toten auf dem Schlachtfeld erwählen und nach Walhall bringen. Sie stehen in enger Verbindung mit Odin als Totengott. In der Heldendichtung ist die Walküre das weibliche und kriegerische Pendant des Helden. Auch die Disen können den Tod bringen. Ihnen wurde als einzige der Scharen kultische Verehrung zuteil. Odin ist in der Heldensage besonders präsent, in seiner Funktion als Schlachtenlenker oder weiser Ratgeber. So auch in der „Völsunga saga“, die ihren Ursprung in der Völkerwanderungszeit im 4.-6. Jahrhundert hat und die Auseinandersetzungen zwischen Burgunden, Hunnen und Goten reflektiert. Hauptsächlich ist sie eine Prosa-Nacherzählung der Sigurd-, Brynhild-, und Gudrunlieder aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.

Die Vorgeschichte der „Völsunga saga“ beginnt mit dem „Lied vom Drachenhort“. Ein reicher Riese namens Hreidmar besaß Zauberkräfte und hatte drei Söhne. Zwei von ihnen Fafnir und Otter konnten ihre Gestalt verändern. Der dritte, Regin, war ein Zwerg. Eines Tages kamen die drei Götter Odin, Hönir und Loki an einen Wasserfall wo sich Otter in der Gestalt eines Fischotters an einem Lachs gütlich tat. Loki warf einen Stein nach ihm und verwundete ihn tödlich. Die Götter nahmen ihre Jagdbeute mit und zeigten sie Hreidmar. Dieser verlangte Entschädigung für seinen toten Sohn. Die Asen willigten ein, den Balg mit Gold zu füllen und dann Gold darüber aufzuhäufen, bis er vollständig bedeckt war. Loki sollte das Gold herbeischaffen. Loki suchte den Zwerg Andwari auf, denn Zwerge besaßen meist auch große Schätze. Andwari verwandelte sich gern in einen Hecht. Loki besorgte sich ein Netz und fing den Zwerg ein. Als Gegenleistung für seine Freilassung verlangte er sein gesamtes Gold. Der Zwerg gab es ihm, nur einen Ring wollte er behalten, da dieser Zauberkraft besaß. Loki nahm ihm auch den Ring ab und Andwari verfluchte alle künftigen Besitzer des Rings : „Das Gold soll, das Gust hatte, Brüder zweien bringen den Tod und acht Fürsten Fehde wecken; niemanden nütze mein Gut!
Loki kehrte mit dem geraubten Schatz zu den anderen zurück. Den Ring wollte Odin behalten, aber als sie den Balg gefüllt hatten, ragte noch ein Barthaar hervor und Odin musste den Ring hergeben und damit das Haar verdecken. Hreidmar, Fafnir und Regin gerieten über das Gold in Streit, Fafnir tötete seinen Vater, nahm den Schatz, verwandelte sich in einen Drachen und bewachte das Gold bis Regin seinen Tod herbeiführte.

Der erste Abschnitt der Völsunga saga erzählt von einem König namens Wölsung, der wie es hieß von Odin abstammte, und seinen Kindern, insbesondere von seinem Sohn Sigmund und seiner Tochter Signy.
Wölsung baute für seine Familie ein großes Haus, in dessen Mitte sich ein großer Baum befand. Während der Hochzeit von Signy mit Siggeir, dem König von Gautland, betrat ein alter, einäugiger Mann die Halle, zog ein Schwert und rammte es in den Baum. Er forderte alle Männer auf es herauszuziehen, doch nur Sigmund gelang es. Siggeir war darüber sehr erbost und beschloss Rache zu nehmen. Er lud vor der Abfahrt in seine Heimat seine neuen Verwandten zu einem Besuch in drei Monaten ein. Als die Verwandten beim König eintrafen, tötete er Wölsung und seine Söhne. Sigmund gelang es als einziger zu fliehen. Signy nahm die Gestalt einer Hexe an und verbrachte drei Tage mit ihrem Zwillingsbruder im Wald. Aus dieser Verbindung ging Sinfjötli hervor. Sigmund heiratete später Borghild und bekam mit ihr zwei Söhne, von denen der eine, Helgi, Berühmtheit erlangen sollte. Damit endet der erste Teil der Völsunga saga. Der zweite Abschnitt schildert die Abenteuer von Helgi und seinem Halbbruder Sinfjötli, der nach seiner Heimkehr an den väterlichen Hof von Borghild vergiftet wurde. Borghild starb bald darauf und Sigmund heiratete Hjordis. Sie war schwanger als Sigmund in eine Schlacht zog. Mitten im Kampfgewühl tauchte ein einäugiger Mann mit Schlapphut und Speer in der Hand auf. Er versperrte Sigmund den Weg mit erhobenem Speer. Sigmund holte zum Schlag aus, doch sein Schwert zerbrach an dem Speer. Hjördis fand Sigmund tödlich verwundet und er sagte ihr, sie solle die Teile des Schwerts aufbewahren, denn sie würde einen Sohn gebären, der damit in die Schlacht ziehen würde. Der dritte Abschnitt der Völsunga saga berichtet über die Taten von Sigmunds und Hjördis Sohn. Sigurd wurde zum größten aller germanischen Helden. An dieser Stelle verbindet sich die Heldensage der Wölsunge mit dem Göttermythos vom großen Goldschatz mit seinem verhängnisvollen Ring. Die Völsunga saga erzählt von dem Zwerg Regin, dem Erzieher Sigurds und dessen Bruder Fafnir, der den Schatz bewachte und den Sigurd tötete. Auf Regins Wunsch riss er das Herz des Drachen heraus und briet es. Als er sich die blutigen Finger ableckte, verstand er plötzlich die Sprache der Vögel, die ihm Regins Verrat enthüllten und den Weg zu Brunhild wiesen, die in einem Zauberschlaf lag und ihn Weisheit lehren konnte. Sigurd gelang es, den Feuerring, den die Festung umgab, zu durchbrechen und er erweckte Brunhild. Sie verliebten sich sofort ineinander und Sigurd schenkte ihr seinen goldenen Ring und gelobte ewige Treue. Doch Brunhild prophezeite Sigurd, dass er eine Frau namens Gudrun heiraten und bald danach sterben würde. Die Witwe werde danach König Atli heiraten, den sie am Ende töten werde. Alles geschah wie Brunhild vorausgesagt hatte. Nach der Heirat von Sigurd und Gudrun stellte sich die Frage nach einer geeigneten Frau für Gunnar, Gudruns Bruder. Die Wahl fiel auf Brunhild. Da es Gunnar nicht gelang, das Feuer zu überwinden, tauschte er mit Sigurd die Körper und dieser übernahm die Aufgabe, stellte sich Brunhild als Gunnar vor und verbrachte drei Nächte mit ihr. Brunhild war mit der Hochzeit einverstanden und folgte Gunnar in sein Schloss. Bei einem Streit zwischen Gudrun und Brunhild erfuhr diese, dass es Sigurd gewesen war, der die Flammen überwunden hatte. Brunhild fühlte sich entehrt und gedemütigt und verlangte von Gunnar Sigurd zu töten. Gunnar beauftragte seinen Bruder Guttorm mit der Tat. Dieser erstach Sigurd im Bett, fand bei dem Attentat aber auch den Tod. Brunhild nahm sich daraufhin das Leben. Ihr letzter Wunsch war gemeinsam mit Sigurd verbrannt zu werden. Die letzten Abschnitte der Völsunga saga schildern Gudruns Schicksal nach Sigurds Tod. Nach sieben Jahren heiratete sie König Atli. Dieser hatte bereits einen Plan geschmiedet, wie er an das Gold Gudruns kommen konnte, das im Besitz ihrer Brüder war. Er lud nach der Hochzeit Gunnar und Hogni zu einem Besuch ein. Obwohl Gudrun sie warnte, kamen beide an Atlis Hof. Er tötete erst Hogni, dann warf er Gunnar in eine Schlangengrube. Gudrun rächte sich, indem sie die gemeinsamen Söhne tötete und ihrem Mann Blut und Herzen servierte. Schließlich erstach sie Atli eines Nachts im Schlaf. Gudrun heiratete noch ein drittes Mal und bekam noch weitere Söhne. Mit dem Tod der letzten Söhne Gudruns endet die „Völsunga saga“. Fafnirs Erbe, das mit einem Fluch belegte Gold, aber war, laut Snorri, inzwischen im Rhein versenkt worden, und dieses Gold wurde seitdem niemals gefunden.

Deutsche Dichter und Wissenschaftler haben die altisländische Literatur zunächst in lateinischen Übersetzungen kennen gelernt, die im 17. und 18. Jahrhundert in Kopenhagen, Stockholm und Uppsala erschienen sind. Die erste deutsche Ausgabe der Prosa Edda erschien 1777 durch Jakob Schimmelmann. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm das Interesse an altisländischer Literatur zu. Der Sturm–und–Drang Dichter Johann Gottfried von Herder war der Meinung, dass nordische Mythen eine Art Rüstkammer für den neuen deutschen Geist werden könnten. Friedrich Schlegel machte im Jahr 1802 zum ersten Mal auf die isländische Fassung der Nibelungensage aufmerksam  und verglich sie mit dem deutschen Nibelungenlied. Der Erste, der den Stoff dichterisch verarbeitete, war jedoch Friedrich de la Motte Fouqué. 1808 schrieb er sein Lesedrama „Sigurd der Schlangentöter“, das er 1810 zu der Trilogie „Der Held des Nordens“ ausweitete. Die Motive sind größtenteils der „Völsunga saga“ und einigen anderen Vorzeitsagas entnommen. Diese Stoffe waren zu seiner Zeit als Unterhaltungsliteratur sehr beliebt. Einer der Freunde Fouquéts war der Wissenschaftler Adolf Wagner – Richard Wagners Onkel. In dessen Bibliothek studierte der Gymnasiast Richard Wagner von 1827-1830 fleißig die Dichtungen des Mittelalters, die griechischen Klassiker und sicher auch die nordischen Übersetzungen. In seiner frühen Schaffensphase wechselte Wagner noch zwischen Tragödie und Komödie, zwischen Ritterstück und Schäferspiel, zwischen Märchen und historischen Themen. Erst bei „Rienzi“ 1838 nahm der historische Stoff konkrete Formen an. Ab 1841 diente die Geschichte nicht mehr allein als dramatisches Mittel, sondern wurde zum Zweck der Oper. So entstanden im Zeitraum von 1841-1846 „Der fliegende Holländer“, die beiden Opernentwürfe „Die Sarazenin“, „Die Bergwerke zu Falun“, sowie „Tannhäuser“ und der Dramenentwurf „Friedrich I.“ 1848 folgte „Lohengrin“ und die Dramenentwürfe „Jesus von Nazareth“ (1849) und „Wieland der Schmied“ (1850). Das Nibelungenlied spielte bis dahin nur eine marginale Rolle für Wagner. Als ihm die Dichterin Louise Otto 1845 ihr Libretto zu einer Nibelungen-Oper schickte, lehnte er es ab. Der nordische Sagenstoff hingegen faszinierte Wagner immer mehr. Für ihn war die die nordische Sagenwelt der Schlüssel zum Verständnis aller Sagen. Dem Komponisten Niels W. Gade teilte Wagner 1846 mit: „Ich muss nach ihren altnordischen Edda-Dichtungen greifen, die sind viel tiefsinniger als unsere mittelalterlichen.“ Noch während der Arbeit am „Lohengrin“ vertiefte sich Wagner neben den griechischen Tragödien in die „Thidrekssaga“, in die „Heimskringla“ und „Völuspá“ der Lieder-Edda. Das berühmteste Eddalied ist die „Völuspá“ (Die Weissagung der Seherin). Der Leser wird darin zu den Ursprüngen der Welt geführt. Er erfährt, dass die Welt von den Göttern aus der Urflut emporgehoben wurde. Sie befestigten die Sterne am Himmel und erschufen die Zwerge sowie die Ureltern der Menschen Ask und Embla. Die Seherin beschwört den Krieg zwischen den Göttergeschlechtern der Asen und Wanen, und sie entwirft ein Weltbild, das von der Weltesche Yggdrasill bestimmt ist, unter der sich ein Weisheitsbrunnen befindet. Mehr als die Hälfte der 66 Strophen beschäftigen sich mit „Ragnarök“ dem drohenden Weltuntergang. Balder, Sohn Odins und Friggs und der Liebling der Götter, findet den Tod durch Verrat. Brüder bekämpfen sich und Verwandte bringen sich gegenseitig um. Die Sonne verfinstert sich, Unwetter ziehen herauf und der Fenriswolf reißt sich von seiner Kette los und verschlingt Odin. Die Götter rüsten zu ihrem letzten Kampf gegen die Chaosmächte und unterliegen. Schließlich fallen die Sterne vom Himmel und das Land versinkt im Meer. Am Ende steigt aber eine neue Welt aus den Fluten hervor und die unschuldigen Göttersöhne nehmen Odins Fürstenhalle „Walhall“ in Besitz.

Die „Völuspá“ wirkt wie eine Art Hintergrund für Wagners Fabel und man spürt überall im „Ring“ ihren Geist. Der Fluch trifft denjenigen, der die reinen Güter der Natur missbraucht und auf Liebe verzichtet, um sich dadurch Gewalt über andere verschaffen zu können. Alberich, Wotan, Fafner, Mime und Hagen erliegen dieser Versuchung und Verrat folgt auf Verrat bis zur totalen Vernichtung. Der unschuldige Held, der gezeugt wurde, um die Welt zu retten, wird am Ende selbst zum Opfer.

Spätestens mit den politischen Ereignissen von 1848 (Märzrevolution) hat sich Wagners Denken grundlegend geändert. Es geht ihm nicht mehr allein um die Helden, deren Handeln sich aus den äußeren Umständen ergibt, sondern um das Wesen des Menschen, welches sich in den Verhältnissen niederschlägt. Damit beginnt eine ganz neue Schaffensperiode Wagners. Der Mythos wird zur Grundlage universeller Erkenntnis, wobei auch die Musik eine zentrale Rolle spielt. Die mythische Handlung wirkt auf den Verstand, die Musik auf das Gefühl. In das Zusammenspiel von Ratio und Emotio ist auch die Sprache einbezogen. Am idealsten schien Wagner dafür der Stabreim geeignet, da dieser durch seine „sinnig-sinnlichen“ Eigenschaften die Dialektik von „tönendem Laut“ (Vokal) und „lautendem Ton“ (Konsonant) von unbewusster Bedeutung und bewusster Deutung in der höheren Erkenntnis des „Reinmenschlichen“ aufhebt. Das neue Drama soll unbewusst jenen „reinmenschlichen“ Wert zu Bewusstsein bringen, der die willkürliche Form des Politischen im Sinne des unwillkürlichen – im Mythos enthaltenen – reinmenschlichen Aspekt sprengt und die Welt dadurch verändert. Seine Ideen schreibt Wagner 1848 in dem Aufsatz „Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage“ nieder. Darin geht es um die Urstruktur des Menschen, dessen Wesen sich in den Mythen offenbare. „Alle historischen Ereignisse gelten hier als Resultat jener „mytischen Identität“ (Die Wibelungen, GSD II, 119), die das Geschehene bloß als Reflex eines höheren Weltenplans erklärt und die Geschichte so im Mythos „aufhebt“. Wagner versteht dementsprechend den mythischen Kern der Siegfried-Gestalt als Symbol für den „individualisierten Licht- und Sonnengott, wie er das Ungetüm der chaotischen Urmacht besiegt und erlegt: -dieß ist die ursprüngliche Bedeutung von Siegfrieds Drachenkampf, einem Kampfe, wie ihn Apollon gegen den Drachen Python stritt.“ (GSD II, 131) In Friedrich Barbarossa (seinen Entwurf „Friedrich I.“ hatte Wagner 1846 begonnen) erkennt er noch einen letzten König, der als Vollstrecker des mythischen Weltwillens die „Wiedergeburt des altheidnischen Siegfried“ verkörpert. Siegfried ist somit im Prinzip aus der Zeit heraus gelöst, er wird – etwa in den Taten Barbarossas – immer wieder sichtbar und lebendig. Sein Wesen kommt in allen natürlichen Gesellschaftsformen zur Erscheinung. Der Nibelungenstoff wird so für Wagner zur entscheidenden Grundlage eines neuen Prinzips. Durch die Trennung des Nibelungenliedes von der durch die ritterlich-höfisch geprägte Zeit seiner Entstehung, glaubt Wagner jenen Urmythos wieder herstellen zu können, der die verborgene Ursprünglichkeit des Menschen zunächst unbewusst realisiert, um sie dann zu rationalisieren. Die Quellen, die Wagner brauchte, um den Hintergrund der Siegfried-Sage auszuleuchten, fand er in den „Sigurd“- und „Attliliedern“, im „Reginsmál“, „Fafnismál“, in „Grispirs Weissagung“ sowie in der „Erweckung der Walküre“ und in „Brynhilds Helfahrt“ aber auch in der „Thidrekssaga“. Wagner hielt diese Quellen nicht nur für älter und ursprünglicher als das Nibelungenlied, das doch stark durch seine Entstehungszeit geprägt ist, sondern sah in der Verbindung von Götter- und Heldenmythos die Möglichkeit jene universelle Weltdeutung zu erhalten, die ihm vom antiken Drama her vertraut war. Da es sich bei den altnordischen Mythen lediglich um einzelne Geschichten handelte und nicht um ein episches Großwerk, greift er den ersten Teil des Nibelungenliedes heraus, zerschlägt den Handlungsrahmen und baut es durch Einfügung der Texte aus der Edda neu zusammen.
Dadurch entfernt er sich immer mehr vom Nibelungenlied. Das ermöglicht ihm aber auch seine gesellschaftskritischen Ideen und die politische Aktualität in das Nibelungen-Drama einzubeziehen und so einen ganz eigenen Mythos zu erschaffen.

Kurz nach der „Wibelungen-Schrift“ beginnt Wagner eine Prosa-Vorstudie: Der Nibelungen-Mythus. Dort wollte er „den ganzen mythos in seinem großartigen zusammenhange“ darstellen. Er fügt dazu die in der Edda, den Sagas und dem Nibelungenlied gefundenen Motive zu einer geschlossenen Einheit zusammen. Dieser Entwurf umfasst bis auf wenige Änderungen und Ergänzungen praktisch die gesamte Handlung des „Rings“. Erst wenn die Götter „in dieser Menschenschöpfung sich selbst vernichten, nämlich in der Freiheit des menschlichen Bewusstseins“, kann die alte Ordnung wieder hergestellt werden. Siegfried ist der Held, durch dessen Tod die Götter von ihrer Schuld befreit werden. „Hört denn, ihr herrlichen Götter, euer Unrecht ist getilgt: dankt ihm, dem Helden, der eure Schuld auf sich nahm.“ Doch noch ist Alberichs Fluch nicht gebannt. Es bedarf noch des bewussten Opfers Brünnhildes, deren letzter Wille auf die Rückgabe der Herrschaft an die Götter zielt. „Nur einer herrsche, Altvater, herrlicher, du!“ Hier unterscheidet sich der Entwurf deutlich von der späteren Ring-Konzeption. Es fehlt noch die zerstörerische Macht der Verträge, die später im Ring entscheidend sein wird. Auch Wotans Augenopfer, Alberichs Liebesfluch und Fafners Verwandlung fehlen noch. Eduard Devrient, zu dem Wagner seinen ersten Entwurf bringt, sieht darin eine politische Überfrachtung sowie einen thematischen Hintergrund, der notwenig zur Unverständlichkeit des Werkes führen müsse. „Er (Wagner) will eine Oper daraus bilden, das wird nichts werden, fürchte ich. Die nordische Mythe findet wenig Sympathie, schon weil sie unbekannt ist (…) Auch holt Wagner immer zu weit aus und knetet seine modernen Anschauungen ein.“ (Devrient 1964) Wagner braucht einen Protagonisten für die dramatische Gestaltung des Nibelungen-Mythus, um den herum er die Handlung aufbauen kann. Er findet ihn in Siegfried, den er in den Mittelpunkt seiner Dichtung „Siegfrieds Tod“ (Götterdämmerung) stellt. Er nimmt damit das Ende vorweg und setzt mit der Halle der Gibichungen ein. Rückblickend wird die in den nordischen Quellen berichtete Vorgeschichte erzählt. Die Skizze dramatisiert im Wesentlichen die Handlung des Nibelungenliedes.
Erneut äußert Eduard Devrient Bedenken: Dem Publikum werde zuviel zugemutet. Siegfried und Brünnhilde sollten doch erst einmal vom Publikum kennen gelernt werden, bevor es zum tragischen Konflikt kommt. Wagner ergänzt daraufhin die Abschiedsszene zwischen Siegfried und Brünnhilde und setzt die Nornenerzählung voran. Die erste Versdichtung trägt den Untertitel: Eine große Heldenoper. Wagner liest sie seinen Freunden vor. Am 2. Dezember 1848 schreibt Devrient in seinem Tagebuch: „Der Kerl ist ein Poet durch und durch. Eine schöne Arbeit. Die Alliteration, wie er sie gebraucht, ein wahrer Fund für die Operngeschichte, sie sollte zum Grundsatz dafür erhoben werden. (..) Ich halte dieses Gedicht für sein bestes und am ersten dramatischtes.“ (Devrient 1964)

Nach seiner Flucht aus Dresden ruht die Arbeit am „Ring“ und Wagner schreibt in erster Linie kunsttheoretische Abhandlungen. In „Oper und Drama“ entwickelt er seine Mythos-Theorie weiter. Der Mythos transportiert Urbilder, die sich in allen Völkern finden, da sein Erkenntnis vermittelndes Wesen immer und überall gleich ist. Wagner spricht daher vom Urmythos, der sich in allen mythischen Darstellungen offenbare, und den es zu entdecken gilt. „Das Unvergleichliche am Mythos ist, dass er jederzeit wahr, und sein Inhalt bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.“ (Oper und Drama, DS VII, 188)
Aufgabe des Dichters ist es, den Mythos zu deuten, dazu muss er allerdings Teil des Volkes werden, um das vom Volk Gefühlte künstlerisch verdichten und verarbeiten zu können. Damit befindet sich Wagner in einem Dilemma. Welche Mythen soll er wählen? Zum einen gründet das Volk für das er schreibt auf germanischen Wurzeln, zum anderen ist dieses Volk aber durch eine klassisch-griechische Bildung geprägt. Wagner benutzt also beide Mythen, den germanischen und den griechischen, zumal nach seiner Theorie der Urmythos ohnehin als identisch angesehen werden kann. Mit Blick auf die Mythen steht Wagner in der Tradition Jacob Grimms, der in seiner „Deutschen Mythologie“ das nordische und deutsche Denken im germanischen Kontext auflöst. Wagner erscheinen die germanischen Stoffe allerdings authentischer, weil es in ihnen weniger um vermenschlichte Götter, als vielmehr um vergöttlichte Menschen, um Helden ginge. Der mystische Kern germanischer Sagen „wurzelte tief in derselben religiösen Naturanschauung, die einst den Urmythos erzeugt hatte.“ „Die dichterisch gestaltende Kraft dieser Völker war also ebenfalls eine religiöse, unbewußt gemeinsame, in der Uranschauung vom Wesen der Dinge wurzelnde.“ (Oper und Drama, DS VII, 160)

Im Anschluss an seine Überlegungen in „Oper und Drama“ ändert Wagner erneut sein Nibelungen-Konzept. Er spricht jetzt nicht mehr von „Heldenoper“ sondern von Drama. Seinen Freunden teilt er mit: „Ich schreibe keine Opern mehr.“
Im Sommer 1851 als Wagner sich wieder mit dem jungen Siegfried befasst, schreibt er: „Meine Studien trugen mich so durch die Dichtungen des Mittelalters hindurch bis auf den Grund des alten urdeutschen Mythos, ein Gewand nach dem anderen, das ihn die spätere Dichtung entstellend umgeworfen hatte, vermochte ich von ihm abzulösen, um ihn so endlich in seiner keuschesten Schönheit zu erblicken.“ (DS VI, 289) Das für Wagner wichtigste Werk die „Völsunga saga“ hatte er aus der königlichen Bibliothek entliehen, da er sie nicht käuflich erwerben konnte. In einem Brief an seinen Freund Theodor Uhlig vom 12.11.1851 bittet er diesen, ihm das Werk auszuleihen und nach Zürich ins Exil zu schicken. „Jene „Wölsungasaga“  möchte ich nun noch einmal haben, nicht um nach ihr zu bilden (Du wirst leicht finden wie sich mein Gedicht zu dieser Sage verhält) sondern um mich alles wieder genau zu erinnern was ich an einzelnen Zügen schon einmal konzipiert hatte.“ (SB IV, 173ff.) Wagner muss ein weiteres Drama voranstellen, in dem „Alles, was in „Siegfrieds Tod“ theils erzählt, teils als bekannt vorausgesetzt wird, in frischen, heiteren Zügen, durch wirkliche Darstellung vorgeführt“ wird, wie er am 20.11.1851 an Franz Liszt schreibt. Es entsteht „Der junge Siegfried“. Da aber auch dieser bald den Rahmen des Darzustellenden sprengt, folgen noch „Die Walküre“ und „Der Raub des Rheingoldes“ (später nur „Rheingold“). 1852 ist der Nibelungen-Zyklus abgeschlossen. Er hat nun eine Form, die an das griechische Drama anknüpft und einen Stoff, der aus verschiedenen nordischen und deutschen Quellen stammt.

An zentraler Stelle des „Ringes“ steht eindeutig die Siegfried-Gestalt. Mit Siegfried tritt ein Mensch in den Mittelpunkt des Dramas, der nichts mit den Verträgen der Götter zu tun hat und der seine eigenen Wege geht. Wagner weicht hier ganz bewusst von der Siegfried-Gestalt des Nibelungenliedes ab und greift auf die Sigurd-Lieder der Liederedda, die „Völsungsa saga“ und die „Thidrekssaga“ zurück. Für seinen Mythos entnimmt Wagner dem Nibelungenlied das Komplott gegen Siegfried und die Umstände seiner Ermordung. Das Heranwachsen des Helden und die Ereignisse in seiner Jugend, die im zweiten Teil der Ring Tetralogie „Siegfried“ dargestellt werden, stammen überwiegend aus dem nordischen Sagenkreis. Dort finden sich die Motive vom Aufwachsen des Waisen bei einem Schmied, das Töten des Drachens, die Gewinnung des Schatzes und die Befreiung Brünnhildes. Auf das im Nibelungenlied angeführte Motiv von Siegfrieds Bad im Drachenblut, das ihn unverwundbar macht, verzichtet Wagner in seiner Bearbeitung. Ihm genügt die Liebe zu Brünnhilde. In einem Brief an August Röckel vom 25.1.1854 schreibt er: „Die Liebe zu Brünnhilde ist Garantin dafür, dass der furchtlose, stets liebende Mensch Siegfried zum vollkommensten Menschen wird“. Dadurch hatte Wagner einen neuen Siegfried-Mythos erschaffen, der weder konkrete Bezüge zur Vergangenheit noch zur überlieferten Sagengestalt aufweist. Durch die Verwendung von Motiven aus Sage, Mythos und Märchen vergegenwärtigt Siegfried die Urformen menschlichen Handelns. Im Gegensatz zum politischen Mythos, der die Siegfriedsage für propagandistische Zwecke missbrauchte, blieb die radikale Enthistorisierung und Entpolitisierung des Siegfried-Mythos aber auch bei Wagner nicht wirkungslos, er hatte gleichfalls einen revolutionären Anspruch. Über die im Drama durch Reflexionsprozesse vermittelte Erkenntnis wird der Rezipient zum neuen Siegfried, der die Welt durch sein neues Bewusstsein letzten Endes doch im politischen Sinne verändert.

Als Hauptquellen nennt Wagner in einem Brief an Franz Müller vom 9.1.1856:

1. Der Nibelungen Noth u. Klage, herausgegeb. von Lachmann.
2. Zu den Nibelungen etc. von Lachmann.
3. Grimm’s Mythologie.
4. Edda.
5. Volsunga-Saga (Übersetzt von Hagen-Breslau.)
6. Wilkina- und Niflungasaga. (ebenso.)
7. Das deutsche Heldenbuch – alte Ausgabe, auch erneuert von Hagen – Bearbeitet in 6 Bänden von Simrock.
8. Die deutsche Heldensage von Wilh. Grimm.
9. Untersuchungen zur deutschen Heldensage von Mone – (Sehr wichtig)
10. Heimskringla – übersetzt von Mohnike. (glaub‘ ich !) (nicht von Wachter-Schlecht.)

Aus verschiedenen Gründen unterbrach Wagner seine Arbeit am Ring 1857. Er konnte sie erst 1869 dank der Unterstützung des bayrischen Königs wieder aufnehmen. Im August 1872 vollendete er in Bayreuth die letzten Orchesterskizzen der „Götterdämmerung“ und legte sich dabei endgültig auf den heute bekannten Schlusstext fest. Zum 27. Geburtstag seines Förderers König Ludwig II. am 25. August 1872 schrieb Wagner ihm eine persönliche Widmung:

„Vollendet das ewige Werk!
Wie im Traum ich es trug,
wie mein Wille es wies,
was bange Jahre barg des reifenden Mannes Brust,
aus wintermächtigen Wehen
der lieb‘ und des Lenzens Gewalten
trieben dem Tag es zu: Da steh‘ es Stolz zur Schau,
als kühner Königsbau prang‘ es prächtig der Welt!“

Im November 1874 war der „Ring des Nibelungen“ auch musikalisch fertig gestellt und wurde am 13. August 1876 im eigens dafür gebauten Festspielhaus in Bayreuth uraufgeführt. Kaiser Wilhelm I., Dom Pedro II. Kaiser von Brasilien und zahlreiche fürstliche Häupter waren angereist, um diesem spektakulären Ereignis und seinem Urheber die Reverenz zu erweisen.
Durch Wagners „Ring“ wuchs das Interesse an nordischen Mythen rasant, sei es in Text, Bild, Musik, im Drama, in der Oper, in der Malerei, in der Publizistik, der Produktwerbung, der politischen Propaganda und in der Buchkunst. Insbesondere die Werbung ließ sich von Motiven und Figuren aus dem „Ring“ inspirieren. Es gab ganze Sammelbildserien wie die Liebig-Serie „Nordische Göttersagen“ von 1894, die in deutscher, italienischer sowie in dänischer und schwedischer Sprache verbreitet waren. Die Qualität der Abbildungen war meist bescheiden und die Götterfiguren werden mit den immer gleichen Attributen kenntlich gemacht: Odin, dessen Einäugigkeit eine eher geringe Rolle spielt, mit Speer und Flügelhelm, dazu die Raben und manchmal die Wölfe, Thor mit dem Hammer, Baldur mit der Sonne, Heimdall mit Horn und Regenbogen, die Nornen zu dritt am Stamm der Weltesche. Ausgestattet mit Flügelhelmen, Speeren und Schilden kommen die Götter als Theatergermanen daher, die ihre Herkunft von den Bühnenbild- und Kostümentwürfen für die frühen Aufführungen des „Ring des Nibelungen“ nicht verleugnen können, ebenso die vielen Walküren, die auch einen Flügelhelm tragen. Als germanische Kopfbedeckung lässt sich der Flügelhelm in der Kunst seit dem 17. Jahrhundert nachweisen, doch erst im 19. Jahrhundert wurde er zum stereotypen Merkmal der Germanenbilder. Als Wagner den Berliner Maler Carl Emil Doepler den Älteren (1824-1905) als einen der erfahrensten Kostümkundler seiner Zeit mit den Entwürfen für die erste Inszenierung des „Rings“ beauftragte, gab es kaum Anhaltspunkte für Aussehen und Kleidung der Germanen. Doepler griff also auf archäologische Funde aus der Bronze- und Eisenzeit sowie auf antike Germanenbeschreibungen von Caesar und Tacitus zurück. Die Kostümentwürfe fanden bei Wagner und seiner Frau Cosima wenig Anklang. Von Cosima ist der Ausspruch überliefert, dass „die Kostüme (…) durchweg an Indianerhäuptlinge“ erinnerten und außerdem „den Stempel kleinlicher Theatergeschmacklosigkeiten“ trügen. Dennoch waren Doeplers Kostüme nicht nur auf der Bayreuther Bühne zu sehen, sondern wurden überall bekannt und häufig nachgeahmt. Wagners Mythos trat seinen Siegeszug auf den Bühnen der Welt an.

Literatur

Árni Björnsson „Island und der Rind des Nibelungen, Richard Wagner, Eddas und Sagas“, Bouvier Verlag Bonn 2011

Klaus Böldl „Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch“, C. H. Beck München 2013

R. I. Page „Nordische Mythen“, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1993

Katja Schulz u. Florian Heesch „Sang an Aegir“ Nordische Mythen um 1900, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009

Richard Wagner „Dichtungen und Schriften“. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Jubiläumsausgabe 10 Bde. Frankfurt am Main 1883

Richard Wagner „Gesammelte Schriften und Dichtungen“ 10 Bde. Leipzig 1887

Richard Wagner „Sämtliche Briefe“. Hg. v. Gertrud Strobel u.a., Bd. 1-9 Leipzig 1967. Bd. 10ff Wiesbaden 2000ff.

 

 

Dietrich von Bern

Dietrich von Bern
Dietrich von Bern
Bilder: /www.antiquariat-biebertal.de

Die Thidrekssaga stellt als einzige mittelalterliche Quelle das gesamte Leben des Dietrich von Bern dar.[1]

Dietrich wächst am Hofe seines Vaters, König Dietmars von Bern auf; ihn und seinen Waffenmeister Hildebrand verbindet eine tiefe und lebenslange Freundschaft. Bereits als junger Mann besteht er Abenteuer, die ihn als Kämpfer berühmt machen. Das wichtigste hiervon ist zweifellos der Kampf mit dem Riesen Grim, bei dem er mit der Hilfe des Zwerges Alfrik (der Name entspricht genau nhd. Alberich) den Helm Hildegrim und das Schwert Nagelring gewinnt, das er nun eine Zeit lang führt.

Aufgrund seines Ruhmes kommen nun andere junge Recken nach Bern, teils um sich Dietrich anzuschließen, teils um sich mit ihm im Waffengang zu messen. Einer davon ist Heime, der Sohn des berühmten Rossezüchters Studas, der sich Dietrich nach dessen Sieg im Zweikampf als Gefolgsmann anschließt und ihm als Geschenk einen Hengst seines Vater mit dem Namen Falke verschafft, den Dietrich dann bei seinen weiteren Abenteuern reitet. Eine weniger freundliche Aufnahme findet der inkognito reisende Sohn Wielands Wittich, dem sein Vater das Schwert Mimung überlassen hat. Dietrich – bis jetzt in jedem Kampf siegreich und voll von jugendlichem Hochmut – droht Wittich an, ihn an den Zinnen Berns aufhängen zu lassen. Doch Dietrich hat weder mit Wittichs außergewöhnlichem Schwert, noch mit dessen Kampfgeschick gerechnet – einzig Hildebrands Eingreifen, dem Wittich freundschaftlich zugetan ist, bewahrt den Berner vor einer vollständigen Niederlage. Hildebrand vermag es auch, die Kämpen zu versöhnen und dazu zu bringen, einander als gleichrangige Waffenbrüder anzuerkennen.

Um die erhaltene Schmach wettzumachen, beschließt Dietrich, den berühmten Kämpen Ecke herauszufordern, der das von Alfrik geschmiedete Schwert Eckesachs an sich gebracht hat. Auch dieser Kampf ist für Dietrich alles andere als einfach; dass er glücklich endet, hat er nur seinem Pferd Falke zu danken, das Ecke – als es Dietrich in Todesgefahr ahnt – durch einen Huftritt tötet. Am folgenden Tag kommt es zur Konfrontation mit Eckes Bruder Fasolt; auch in diesem Kampf bleibt Dietrich siegreich und die beiden schwören einander Freund- und Bruderschaft, werden also, anders als im mittelhochdeutschen Eckenlied, Waffenbrüder. Dietrichs Schwert ist fortan Eckesachs, Nagelring erhält Heime zum Geschenk.

Nach dem Tode seines Vaters wird Dietrich König von Bern. Bei einem Gelage, zu dem er auch seine Freunde König Gunther von Niflungenland und dessen Brüder Hagen, Gernot und Giselher eingeladen hat, rühmen sich der junge König und seine elf Tischgenossen, darunter Hildebrand, Wittich und Heime, als unübertreffliche Krieger, die nicht ihresgleichen hätten. Doch Herr Brand, der „Weitgereiste“ (evtl. ein missverstandener Hildebrand?) erhebt Einspruch – König Isung von Bertangenland und seine zehn Söhne seien mindestens ebenso tüchtig, und sein Bannerträger Siegfried sei sogar Dietrich gewachsen. Dietrich – von Zorn entbrannt – und seine Tischgenossen schwören, sich bereits am nächsten Tage auf die Reise zu machen, um sich mit Isung und Siegfried im Kampf zu messen. Im Bertangenland angekommen, verlaufen die Dinge allerdings nicht so, wie gedacht. Nur Wittich kann bei den sportlichen Zweikämpfen – nicht zuletzt wegen seines Schwertes Mimung – einen Sieg verbuchen; alle anderen, auch Gunter und Hagen, müssen sich geschlagen geben. Umso mehr hoffen die Berner auf Dietrich, der im zwölften und letzten Kampf gegen Siegfried antreten soll. Doch Siegfried, der Mimung in Aktion gesehen hat, will nicht gegen ein so überlegenes Schwert kämpfen und lässt Dietrich schwören, dass er es beim Kampf nicht benutzen wird. Dietrich tut das, doch Siegfried erweist sich als der schwierigste Gegner, dem Dietrich bislang gegenüberstand. Auch nach zwei durchkämpften Tagen hat keiner der beiden auch nur eine Wunde erhalten. Dietrich, frustriert und wütend über seine Sieglosigkeit, kann Wittich schließlich dazu überreden, ihm Mimung auszuleihen, das ihm am dritten Tage auch tatsächlich den Sieg schenkt, wenngleich durch einen Trick: Am dritten Tage schwört Dietrich nämlich, er wisse Mimungs Spitze nicht über dem Boden und seinen Griff in keines Mannes Hand, während er sich mit dem Rücken dagegenlehnt. Zwar durchschaut Siegfried den Betrug, zieht es aber dennoch vor, sich geschlagen zu geben, und schwört Dietrich Gefolgschaft. Dietrich, dem die ganze Sache unangenehm ist, vermittelt eine für Siegfried sehr ehrenvolle Hochzeit zwischen Siegfried und Gunters SchwesterKriemhild, nicht wissend, dass Siegfried bereits mit Brünhild verlobt war.

Als Dietrichs Onkel Ermanarich, der in Rom regiert, mit einem großen Heer auf Bern marschiert, um die Herrschaft an sich zu reißen, flieht Dietrich mit seinen Getreuen zu Attila, König der „Heunen“. Er lebt viele Jahre an dessen Hof und hilft ihm in zahlreichen Kämpfen gegen feindliche Könige. Zum Dank leiht Attila ihm ein Heer, damit er sein Berner Reich zurückerobern könne. In der Schlacht bei Gränsport, die mit der Rabenschlacht gleichgesetzt werden kann, erringt Dietrich zwar den Sieg, doch zieht er sich zurück, weil sein Bruder und Attilas Söhne von Wittich, der schon vor Dietrichs Vertreibung bei Ermanarich Dienst genommen hatte, getötet wurden. Attila verzeiht Dietrich den Tod seiner Söhne, und dieser lebt weiterhin an dessen Hof.

Unterdessen wird Siegfried im Niflungenland von Hagen ermordet. Siegfrieds Witwe Kriemhild wurde danach Attilas Gemahlin. Als König Gunther mit viel Gefolge seine Schwester bei König Attila besucht, kommt es zum Kampf zwischen Niflungen und Heunen. Dietrich kann sich anfangs nicht entscheiden, kämpft aber schließlich auf Seiten der Heunen. Am Ende des Gemetzels sind alle Niflungen, etliche Heunen und sämtliche Gefolgsleute Dietrichs tot. Nach diesem Vorfall beschließt Dietrich, nur mit seiner Frau Herat und Hildebrand nach Bern zu reiten, da er gehört hat, dass dort jetzt Hildebrands Sohn herrscht. Als Dietrich in Bern eintrifft, beschließen die Berner, ihn als König anzuerkennen, und folgen ihm in den Kampf gegen Sibich, Ermanarichs Nachfolger. Dietrich siegt und besteigt den Königsthron in Rom, das nun auch zu seinem Reich gehört. Nach dem Tod König Attilas fällt Dietrich auch dessen Reich zu, da Attila keinen Thronerben hinterlässt. Als Dietrich bereits ein alter Mann ist, bricht er auf, um Wittich zu finden und Rache zu üben. Er stellt ihn zum Kampf und tötet ihn, doch auf dem Heimweg erliegt auch er seinen schweren Verletzungen. Dietrichs Kampf mit Wittich findet sich allerdings nur in der schwedischen Fassung.

https://de.wikipedia.org/wiki

Dietrich von Bern
Cod. Pal. germ. 359, fol. 049r - Rosengarten zu Worms, Zweikampf
Volk: Ostgoten
Organisation: Amaler
Geschlecht: Männlich
Status : Germanische Sagengestalt
Vater: Dietmar (Theodemer)

Dietrich von Bern ist einer der Haupthelden der deutschen Sage. Er stammte aus dem Geschlecht der Amelungen (s.Amaler) und bildet den Mittelpunkt des ostgotischen Sagenkreises. Nach der älteren Sage ist er Dietmars (d. h.Theodemers) Sohn, nach späterer Erzählung von einem Dämon gezeugt; aus seinem Munde schießt Feuer, sobald er zornig wird.

Schon als Jüngling kämpfte er mit dem Riesen Sigenot und mit dem Recken Ecke, später im Rosengarten zu Wormsauch mit Siegfried. Vor Ermanarich, dem Bruder seines Vaters, mußte er aus seinem Reich in Italien nach Ungarn fliehen, wo er samt seinen Mannen (darunter der alteHildebrand) von Etzel, dem König der Hunnen, gastlich aufgenommen wurde. Ein Kriegszug gegen Ermanarich, zu dem ihm Etzel ein stattliches Heer mitgegeben, mißglückt, und er muß wieder zu den Hunnen zurückkehren. Später rückt er mit einem neuen Heere nach Italien, erobert nach einer gewaltigen Schlacht die Stadt Raben (Ravenna), vertreibt Ermanarich und nimmt sein Reich wieder in Besitz.

Nibelungenlied 

Dietrich ist auch in die burgundisch-fränkische Siegfriedsage verflochten worden, und so begegnet uns seine gewaltige und doch bescheidene Gestalt, mit sichtlicher Vorliebe gezeichnet, im zweiten Teil desNibelungenliedes an König Etzels Hof. In dieser Erzählung entstand das Porträt des sagenhaften Dietrich. Es liegt weit ab von den typischen Umrissen der jugendlichen Idealkrieger, wie z.B. Siegfried, Walther, Beowulf,Hagbard, Hialmar oder Helgi Hundingstöter und ebenso von den durchfurchten Zügen der Meister, die in derStarkadsage gipfeln.

Es ist eine Verbindung von Milde und Kraft, mit der man nur das Bild Hrolfkrakis vergleichen kann. Aber bei Dietrich kommt dazu jener Unterton von Dulden, der ihm die tiefe Resonanz gibt. Wieweit diese vornehme, etwas schwere, halbdunkle Fürsten-, nicht Kämpenart, eine Synthese von altem Germanen und christlichem Ritter, in Dietrichs Exillied aus dem 6. Jhd. vorbereitet war, steht dahin. Schon der geschichtliche Theoderich war maßvoll und tapfer, selbstbeherrscht und leutselig. Aber auch aus der gegebenen epischen Rolle war das Porträt der Dichtung, wie man es kennt, herauszuspinnen.

Realer Hintergrund 

Die Hauptgrundlage seiner Sagengestalt bildet die historische Persönlichkeit des ostgotischen Königs Theoderich der Große (454—526 n.Chr.), der seinen Sitz in Verona hatte, das im Mittelalter Bern hieß. Diese Sagenbildung um Theoderichs Person fand nach dem 6. Jhd. statt, allerdings ist nicht eindeutig geklärt, ob er durch sein eignes Volk in die Heldendichtung eingeführt wurde, oder erst durch die deutschen Nordnachbaren. Der große Heldenkatalog der Widsith-Dichtung (6. / 7. Jhd.) kennt ihn jedenfalls noch nicht [1]. Erst das Gedicht von „Waldere“ (um 1000) und „Deors Klage“ (10. Jhd.) setzen Dietrich als bekannt voraus. Die Strophe des schwedischen Röksteins (ca. 900) kennt neben Theoderichs Reiterstandbild auch zwei Namen der epischen Überlieferung (Māringar, Hraiþmar), zielt aber auf keine Sage von Dietrich ab. Insoweit jedoch allerlei Riesen- und Drachensagen zu ihm in Beziehung gesetzt worden sind, hat seine Gestalt auch mythologische Züge in sich aufgenommen.

Sagenkreis

Im Laufe der Zeit sammelte sich um Dietrich ein großer Sagenkreis, dem die deutschen Dichter des Mittelaltersmit Vorliebe ihre Stoffe entlehnten. Und selbst die Bauern singen und sagen noch spät von dem treuen, volkstümlichen Helden. Z.B. von:

Cod. Pal. germ. 067, fol. 051r - Sigenot

Dietrich von Bern verspottet den Riesen Sigenot (Zeichnung um 1470).

Ein sagenkundiger Isländer wie Snorri Sturlson wußte von Dietrich zwar vielleicht nicht einmal den Namen. Doch war er in Deutschland gleichzeitig der meistgenannte Held. Seine Epen wiegen an Zahl alle übrigen auf. Diese deutsche, vorwiegend oberdeutsche, Dietrichdichtung strömt von 1250 ab in den skandinavischen Norden: Es entstand das große Sammelwerk der Dietrichssaga, aber auch eine Reihe dänischer Dietrichsballaden.

In Deutschland, als die Heldensage sank, verkörperte er vor allen Anderen, jenen „van dem die bueren so vil singent„, die Vorstellungen von fernen Heldentum. Doch denkt man dabei auch an die unheroischen Geschichten mit Riesen und Zwergen, nicht an die strengen, hohen Züge, die noch die Epenzeit an ihrem Liebling kannte.

Dietrichs Abenteuer mit Riesen, Zwergen und Drachen, die den Inhalt mehrerer mittelhochdeutscher Epen und Abschnitte der Thidrekssaga bilden, sind hauptsächlich spielmännische Neuschöpfung des 12. und 13. Jhds.. Das Eckenlied kann ebenso der urkundliche Name altenglisch Ecga, Ecca, althochdeutsch Eggio, Ecko nicht als alt erweisen, zumal der Sagenname eine Erfindung zum Schwert Eckesahs ist. Die Episode der isländischen Hrólfs saga Gautrekssonar (c. 35 ff) [2], die mit einem Stück der Virginal verwandt ist, gelangte um ca. 1200 nach Island, auch das Hyndluliodh (22. 25) fordert kein höheres Alter.

Dagegen die halbklare Anspielung des Waldere B: „Witege empfing Lohn von Dietrich dafür, dass er ihn aus Klemmen los machte; durch das Gefilde (?) der Unholde eilte er (Dietrich?) davon“ ist wahrscheinlich so zu fassen, dass Dietrich bei Riesen gefangen war und von Witege befreit wurde. Von den drei vergleichbaren Erzählungen mittelhochdeutscher Epen (in Virginal, Sigenot, König Laurins Rosengarten) steht am nächsten Virginal (314 ff.) nebst der Variante von Alpharts Tod (252 f.): Witege befreit Dietrich (und Heime) aus Kerkerhaft bei einem Riesen.

Der Kern dieser Geschichte wird nur das „Gedicht von Waldere für das 9. Jhd. bezeugt. Der Anstoß dazu, dem Helden der lebenstreuen Exilsage ein Trollenabenteuer anzudichten oder anzuhängen, verbirgt sich den Forschern; brachte Witege die Riesensage mit? Bei dem spätem Aufsprießen von Drachen- und Zwergenkämpfen kann der Wunsch gespielt haben, nach dem Vorbild des jungen Siegfrieds auch den jungen Dietrich mit märchenhaft bunten Lehrjahren auszustatten.

Sagengruppen 

Dietrich wurde im Hochmittelalter zum sagenreichsten aller germanischen Helden. Dabei unterscheidet man folgende Stoffgruppe:

  • 1. Die Stammsage Dietrichs, die ihn als Gestalt der Heldendichtung kreiert hat: die sog. Exilsage im althochdeutschen Hildebrandslied (um 840 n.Chr.).
  • 2. Anschließend zur Exilsage schuf man weitere Fabeln, worin Dietrich die oder eine Hauptperson ist, und womit man seine Jugend- oder auch seine Verbannungsjahre ausfüllte. Hierher gehören die mythischen oder märchenhaften Dietrichsgeschichten, die am dem 9. Jhd. auftauchen. Dann die späten, niederdeutschen Dichtungen von Dietrichs und Attilas Wilzenkämpfen, die außerhalb der heroischen Sage fallen (s. Attila). Ferner die ebenfalls jungen Kämpfe, deren Hauptmotiv ist Dietrichs und seiner Mannen Wettstreit mit Siegfried und den Seinen. Für sich steht die schalkhafte Spielmannsnovelle von Herbort, die wohl von Anfang an den Berner für diese quasi Marke-Rolle erkor.
  • 3. Sagen von den Dietrichhelden, in denen Dietrich selbst nur Nebenfigur ist oder sein Schicksal nur den Rahmen hergibt: einerseits das Jüngere Hildebrandlied, die von Dietrich einst unabhängige Vater-Sohnsage (s. Hildebrand), anderseits die zu Dietrich erst hinzugedichteten Erzählungen von Alphart, wie er auf der Warte sein Leben läßt, und von Heime, Witege, Dietleib, wie sie den jungen König von fernher aufsuchen und seine Mannen werden.
  • 4. Schließlich wurde Dietrich mit einer gewichtigen Nebenrolle hereingezogen in die oberdeutsche Gestalt der Burgundensage (Nibelungenlied), und hier fand man für ihn seine größte Heldentat, die Bezwingung der beiden letzten Burgunden.

Sagenübersicht 

Cod. Pal. germ. 359, fol. 057v - Rosengarten zu Worms, Zweikampf

Rosengarten zu Worms:Zweikampf zwischen Hildebrandund König Gibeche (um 1418).

  • Hildebrandslied: Dietrichs Exil (um 840). Dietrich wird aus seinem Reich in Italien vertrieben, um dann wieder nach einer langen Exilzeit von 30 Jahren zurückzukehren. Die Sage erzählt von einer legitimen Rückkehr des Herrschers und so wird aus der Eroberung Italiens eine innergotische Sage.
  • Runenstein von Rök: Überlieferung von Hraiþmar und Māringar im Zusammenhang mit Theoderichs Reiterstandbild (ca. 900).
  • Walthari-Lied: „Gedicht von „Waldere“ (um 1000). Altenglische Version der Sage von Walther und Hildegund. Hier wird erzählt, dass Theodric Widia (Wittich) ein Schwert übergeben wollte, weil Widia, Sohn Wielands, ihn aus der Gewalt von Riesen befreit hatte. Dass Dietrich in Gewalt von Riesen war, ist sonst erst in den mittelhochdeutschen Epen des 13. Jahrhunderts (Sigenot, Virginal) erzählt. Dass der Waldere-Text eine solche Episode erwähnt, zeigt, dass auch die Überlieferung der Abenteuer Dietrichs auf frühe Quellen zurückgeht und nicht erst im 13. Jahrhundert entstand.
  • Lieder-Edda: Gudruns Gottesurteil im Gudhrûnarkvidha thridhja (Drittes Gudrunenlied), (13. Jhd.). Hierin reinigt sich Gudrun (Kriemhild der Nibelungensage) von dem Vorwurf, mit Dietrich geschlafen zu haben.
  • Sigenot (um 1300). Mittelhochdeutsches Epos.

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