Putin fest im Sattel

Blick auf Russland von innen: Sanktionen scharen Bevölkerung um den Präsidenten und werden zu keinem Politikwechsel führen. »Stratfor«-Chef George Friedman über seine in Moskau gewonnenen Eindrücke

Wladimir Putins Popularität ist ungebrochen (Straßenszene in Mos

Wladimir Putins Popularität ist ungebrochen (Straßenszene in Moskau, 24.12.2014)

In der ersten Dezemberhälfte war der Chef des privaten US-amerikanischen Nachrichtendienstes »Stratfor«, George Friedman, zu Gesprächen in Moskau. Er traf sich mit US-, Westeuropa- und NATO-Experten russischer Thinktanks und des Außenministeriums sowie mit international operierenden russischen Geschäftsleuten und Studenten, um sich ein Bild von den wirtschaftlichen und politischen Erwartungen des Landes zu machen. »Stratfor« verdient mit politischen, ökonomischen und militärischen Risikoeinschätzungen sein Geld. Was die Berichte von westlichen Medien und Regierungsstellen unterscheidet, ist, dass sie die Lage weitaus weniger ideologisch verzerrt und manipuliert wiedergeben, denn die Kunden sind hauptsächlich die Abteilungen in den Großkonzernen, die strategische Investitionsentscheidungen zu fällen haben und deshalb eine realistische Grundlage für ihre Planung brauchen und keine nach politischem Gutdünken gefärbte.junge Welt dokumentiert eine gekürzte Fassung des Friedman-Berichtes in einer Übersetzung von Rainer Rupp.

Als ich ankam, dachte ich, die wirtschaftlichen Probleme Russlands würden in den Köpfen der Menschen alles andere verdrängen. Der Absturz des Rubels, der Rückgang der Ölpreise, eine allgemeine Abschwächung der Konjunktur und die Auswirkungen der westlichen Sanktionen scheinen aus westlicher Perspektive die russische Wirtschaft niederzuhämmern. Doch darum drehten sich meine Gespräche nicht.

Für die relative Ruhe trotz der finanziellen Situation gab es einen anderen Grund, und der sollte sehr ernst genommen werden. In den 1990er Jahren haben die Russen schrecklich unter Boris Jelzin gelitten. Allerdings auch unter früheren Regierungen. Trotzdem, und das haben etliche Gesprächspartner unterstrichen, haben sie alle Kriege gewonnen, die sie gewinnen mussten, und zugleich haben sie es geschafft, ein lebenswertes Leben zu führen. Jetzt herrscht in Russland die Meinung, dass das Goldene Zeitalter der vergangenen zehn Jahre zu Ende geht. Das sei zu erwarten gewesen und auch da würde man durchkommen. Die Regierungsbeamten sagten das als Warnung, und ich glaube nicht, dass es ein Bluff war.

Dreh- und Angelpunkt unserer Gespräche waren die Sanktionen, und die Absicht meiner Gesprächspartner war es, zu zeigen, dass Russland dadurch nicht zu einem Politikwechsel gegenüber der Ukraine genötigt werden wird. Die Stärke der Russen liegt darin, dass sie Dinge ertragen, die andere Nationen brechen würden. Und wenn die Russen sich bedroht fühlen, neigen sie dazu, ihre Regierung vorbehaltlos zu unterstützen, egal wie kompetent sie ist. Daher sollte niemand erwarten, dass Sanktionen, egal wie hart sie auch sind, zu einer Kapitulation Moskaus führen werden. Wenn dem so ist, dann geben sich Amerikaner und Europäer über die Auswirkungen ihrer Sanktionen Illusionen hin.

Aktionsabo

Mein Gefühl sagt mir, dass die Russen es ernst meinen. Das erklärt, warum die verschärften Sanktionen, der Absturz des Ölpreises, die Rezession und vieles mehr nicht zu der vom Westen erwarteten Erosion des Vertrauens in die russische Regierung geführt hat. Zuverlässigen Umfragewerten zufolge ist Präsident Wladimir Putin immer noch enorm populär. Ob er populär bleibt, wenn der wirtschaftliche Niedergang stärker zu spüren ist und ob dann Eliten gleichermaßen zuversichtlich bleiben werden, ist eine andere Sache. Aber für mich war die wichtigste Lektion, die ich in Russland vielleicht gelernt habe, dass die Russen auf wirtschaftlichen Druck nicht in gleicher Weise reagieren, wie das die Leute im Westen tun.

Präzedenzfall Kosovo

Bei der Ukraine-Frage stieß ich auf viel mehr Härte. Man gestand ein, dass die Entwicklungen dort einen Rückschlag für Russland darstellten und man nahm der Obama-Regierung übel, dass sie in ihrer Propagandakampagne Russland als den Aggressor darstellt. Zwei Punkte wurden regelmäßig unterstrichen. Erstens, dass die Krim ein historischer Teil von Russland und bereits vor der Krise vertraglich von russischem Militär dominiert war und dass es somit keine Invasion gab, sondern lediglich die Durchsetzung der Wirklichkeit. Zweitens gab es ein erhitztes Beharren darauf, dass die Ostukraine von Russen besiedelt ist und dass dort – ebenso wie in anderen Ländern – die Russen ein hohes Maß an Autonomie erhalten. Dabei wurde auch auf das kanadische Modell von Quebec verwiesen, das zeige, dass der Westen in der Regel keine Probleme mit regionaler Autonomie für ethnisch verschiedene Regionen hat, aber sich schockiert zeigt, wenn die Russen eine solche Form des Regionalismus ausüben wollen.

Der Fall des Kosovo ist für die Russen aus zwei Gründen extrem wichtig: Erstens, weil sie glauben, dass ihre Interessen dort missachtet wurden. Und zweitens, weil damit ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Jahre nach dem Sturz der serbischen Regierung, die die Albaner dort bedroht hatte, hat der Westen dem Kosovo die Unabhängigkeit verliehen. Damit – so unterstrichen die Russen – wurden die Grenzen neu gezogen, obwohl es keine Gefahr mehr für das Kosovo gab. Russland wollte das verhindern, aber der Westen hat es trotzdem getan, weil er stark genug war, es zu tun. Nachdem der Westen in Serbien die Landkarte neu gezeichnet hat, hat er aus russischer Sicht nun nicht das Recht, einer Neuzeichnung der ukrainischen Karte zu widersprechen.

Strategischer Puffer

Aus russischer Sicht ist die Ukraine ein notwendiger strategischer Puffer. Ohne die Ukraine fühlt sich Russland mit einer erheblichen Bedrohung konfrontiert, wenn nicht jetzt, dann später. Als Beispiel wurde auf Napoleon und Hitler verwiesen. Denn beide Feinde wurden mit (strategischer, jW) Tiefe besiegt.

Ich versuchte, die strategische Perspektive der Vereinigten Staaten zu erklären, die das vergangene Jahrhundert mit der Verfolgung eines einzigen Ziels verbracht haben: In Europa den Aufstieg eines Hegemons zu verhindern, der in der Lage gewesen wäre, westeuropäische Technologie und Kapital mit russischen Ressourcen und Arbeitskräften zu paaren. Um eine entsprechende deutsche Hegemonie zu blockieren, intervenierten die USA 1917 im Ersten Weltkrieg und später wieder im Zweiten Weltkrieg. Im Kalten Krieg war es das Ziel, eine russische Hegemonie in Europa zu verhindern.

Daher habe das wiedererstarkte Russland in Washington die Erinnerung an den Kalten Krieg geweckt, und im aktuellen Fall ist die Angst vor Russland in der Ukraine nicht ganz unberechtigt. Wenn es Russland gelingt, seine Macht in der Ukraine zu festigen, was kommt dann als nächstes? Russland hat militärische und politische Macht, die beginnen könnte, nach Europa auszustrahlen und sich auszuwirken. Daher ist es für die USA und für einige europäische Länder nicht unvernünftig, ihrerseits in der Ukraine ihre Macht durchsetzen zu wollen.

Die Russen werden sich mit einem bestimmten Grad an Autonomie in Teilen der Ostukraine zufrieden geben. Wie viel Autonomie, weiß ich nicht. Sie brauchen eine deutliche Geste, um ihre Interessen zu schützen und ihre Bedeutung zu unterstreichen. Ihr Argument, dass regionale Autonomie in vielen Ländern existiert, ist überzeugend. Aber in der Geschichte geht es um Macht, und der Westen nutzt seine Macht, Russland in die Enge zu drängen. Doch jeder weiß, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als einen Bären zu verwunden. Ihn zu töten, ist besser, aber Russland zu töten, hat sich in der Geschichte nicht als einfach erwiesen.

Ich kam mit zwei Erkenntnissen zurück. Eine war, dass Putin in seinem Amt sicherer ist, als ich dachte. Das hat nicht viel zu bedeuten. Präsidenten kommen und gehen. Aber es ist eine Erinnerung daran, dass Entwicklungen, die einen westlichen Führer zu Fall bringen würden, einen russischen möglicherweise unberührt lassen. Zweitens, die Russen planen keine Aggression.

Gleichzeitig hat sich meine allgemeine Analyse bestätigt. Was auch immer Russland an anderen Orten der Welt tun mag, für Russland ist die Ukraine von grundlegender strategischer Bedeutung. Selbst wenn der Osten einen Grad an Autonomie erhielte, würde Russland weiterhin zutiefst besorgt bleiben über die Beziehung der übrigen Ukraine zum Westen. So schwierig dies für Westler zu ergründen ist, die russische Geschichte ist eine Geschichte von »Puffern«. Pufferstaaten bewahren Russland vor westlichen Eindringlingen. Russland will ein Arrangement, in dem die Ukraine zumindest neutral ist.

kurzlink.de/russia-inside

 https://www.jungewelt.de/2014/12-29/001.php

Wer ist die größere Gefahr- Rußland oder die USA ?

Von Klaus Peter Krause

Unterschiedliche Auffassungen – In Russland einen Gegner geschaffen, der gar keiner sein wollte – Sanktionen treiben das Land in Chinas Arme – Keine Angst vor einem starken Russland, aber vor einem schwachen – Das deutsche Dilemma

Foto: xecutives.net

Wer bedroht unsere Freiheit mehr – Ost oder West? Um diese Frage rankte sich eine Tagung*) unter demTitel „Russland: Die große Debatte“. Mit Ost war im Wesentlichen das Putin-Russland gemeint, mitWest die USA und ihre Vasallenstaaten der Europäischen Union. Der Anlass: die von Russland zurückgeholte Krim, die deswegen gegen Russland verhängten Sanktionen und der west-östliche Konflikt um die Ukraine im Allgemeinen. Die Antwort fiel nach meiner Wahrnehmung eindeutig aus und lautet: Beide bedrohen sie. Aber so einig sich Teilnehmer und Vortragende in dieser knappen Antwort schienen, so unterschiedlich war doch die Auffassung darüber, wer denn die größere Gefahr darstelle. Die einen sehen die größere in Russland, die anderen sehen sie in den USA.

Ebendas war das Spannende

Hier also spalteten sich die Teilnehmer in zwei Lager. Das geschah, obwohl – oder eher treffender: weil – sie eines vereint: die für das menschliche Zusammenleben in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liberale und teils auch libertäre Gesinnung. Sie verströmen also den mehr oder minder gleichen Stallgeruch. Kein Wunder, denn Veranstalter war das liberal-libertäre Monatsmagazin eigentümlich frei, und die geladenen Teilnehmer sind dessen Leser. Zumindest in dieser Hinsicht war die Tagung ziemlich einheitlich besetzt. Folglich diskutierten, argumentierten und stritten Vortragende wie Diskussionsteilnehmer innerhalb der gleichen Gedankenwelt. Ebendas war das Spannende. Denn die Sprecher beider Seiten äußerten sich sehr entschieden, und beider Argumentationen waren beachtlich genug, um sie nicht einfach wegwischen zu können. Wenn sie dann doch nicht zu einem Konsens führten, dann deswegen, weil die jeweilige „Gegenseite“ ihnen unterschiedliches Gewicht beimaß.

Die USA eher ein „Reich des Guten“?

Umso beeindruckender war, wie es der Soziologe und Politikwissenschaftler Erich Weede verstand, mit seinem Abschlussvortrag das Gemeinsame so zu formulieren und das Trennende so zusammenzuführen, dass sich darin wohl alle wiederzufinden vermochten und dies durch besonderen Beifall kundtaten. Dies, obwohl er die USA „eher als ein Reich des Guten“ sieht, wenn auch mit Grautönen“, und Russland „weniger als ein Reich des Guten, eher eins des Bösen“. Damit kommen für die andere Teilnehmergruppe die USA zu gut weg. Doch spannte Weede einen Bogen von völkerrechtlichen und geo-ökonomischen Überlegungen über Theoretisches zu internationaler Politik bis hin zu den westlichen Sanktionen gegen Russland und zum dem deutschen Dilemma, was nach Inhalt und Form letztlich versöhnlich stimmte.

„Wir müssen vor Russland keine Angst haben …“

Ein paar Feststellungen aus Weedes Vortrag lauten: „Russland hat nicht die Kraft, Weltmacht zu bleiben, selbst wenn es die ganze Ukraine vereinnahmen würde. Egal, wieviel Gelände Putin in der Ukraine gewinnt, Russland wird (genau wie Deutschland) nie wieder Weltmacht. Wir müssen vor Russland keine Angst haben, jedenfalls ist sie begrenzt.“ Wirtschaftlich sei Russland schwächer geworden. 1989 sei die Sowjetunion wirtschaftlich vielleicht ein Viertel so stark gewesen wie die USA, das heutige Russland sei nur noch ein Achtel so stark. Gänzlich umgekehrt habe sich das wirtschaftliche Kräfteverhältnis zwischen Sowjetunion/Russland und China: von 4 zu 1 auf heute 1 zu 5. Nur mit seinen Atomwaffen sei Russland noch gleichberechtigt. Die russische Wirtschaft heute sei kleiner als die deutsche, britische und französische. Ihr fehle eine exportorientierte Industrialisierung. Das alles werde auf lange Sicht auch militärische Konsequenzen haben.

Sanktionen treiben Russland in Chinas Arme

In den Sanktionen sieht Weede für Russland einen großen Schaden, für die Ukraine nur eine symbolische Hilfe. Sie vermittelten eine falsche und eine richtige Botschaft. Die falsche gehe an die Ukraine und laute „Wir schützen euch“, die richtige an Putin: „Wir verzichten auf militärische Gewalt“. Für Deutschland seien die Sanktionen lästig – nur 3 Prozent des deutschen Exports gingen nach Russland – bis teuer. Aber: „Mit den Sanktionen schwächen wir Russland. Das kann nicht im Interesse Deutschlands und der Europäischen Union sein. Die Sanktionen können weder Deutschland, noch der EU, noch den USA nutzen, nur China. Sanktionen prügeln Russland in Chinas ausgebreitete Arme. Sanktionen können bedeuten, dass der Westen Russland an China verliert. Soll Russland Teil der chinesischen Einflusszone werden? Kann Europa und der Westen einen neuen, von China geführten Ostblock schaffen wollen?“

Anstelle von Sanktionen, lieber zwei Regimenter im Baltikum stationieren

Sanktionen, so Weede, implizierten Feindschaft mit Russland und ein Stärken der chinesischen Position gegenüber den USA. Das sei für den ganzen Westen schlecht, für Deutschland, die EU und auch die USA. Letztlich hätten Sanktionen nur die Funktion, die moralische Überlegenheit des Westens über Russland zu dokumentieren. Auch wenn man an die moralische Überlegenheit des Westens glaube, wie auch er selbst, sei Autosuggestion doch eine verdammt schwache Rechtfertigung. Außerdem würden Sanktionen den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft noch verstärken und damit die wirtschaftliche Freiheit verringern – bei uns und in Russland. Als Anhänger der These, dass Freihandel Frieden möglicher und Krieg unwahrscheinlicher mache, sagte Weede: „Mit Sanktionen nehmen wir ein befriedendes Element weg und machen einen Konflikt wahrscheinlicher.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Maxime „Frieden durch Freihandel“ funktioniert, Sanktionen gegen Russland würden das unmöglich machen. Besser sei es ein, zwei amerikanische Regimenter im Baltikum zu stationieren.

Das deutsche Dilemma

Dass sich die EU, USA und die Nato in den russisch-ukrainischen Konflikt einmischen, hält Weede für einen Fehler, obwohl Russland der Aggressor und die Ukraine das Opfer sei. „Wir sollten die Risiken, die mit erfolgreichen Sanktionen verbunden sind, erkennen: Russland wird allzu schwach und Juniorpartner Chinas. Ein neuer Eiserner Vorhang entsteht in Eurasien.“ Das sei weder im Interesse von Deutschland, noch des Westens, noch Russlands, noch Chinas. Trotzdem folge daraus nicht unbedingt, dass Deutschland sich nicht an Sanktionen beteiligen solle. Deutschland sei keine Großmacht, nicht einmal eine nuklear bewaffnete Mittelmacht wie Großbritannien oder Frankreich. Deutschland finde seine Sicherheit im Bündnis. Aber es stecke in einem Dilemma, denn die Frage sei: „Ist es das größere Übel, eine falsche Politik mitzutragen, oder wäre das größere Übel der nationale Alleingang?“

„Unsere Freiheit bedroht nicht der Iwan, sondern Uncle Sam“

Eine Tagung, die sich über drei Tage erstreckt, lässt sich nur in Auszügen darstellen. Daher zu den übrigen dreizehn Vorträgen nur ein paar Schlaglichter. Der Unternehmer und Autor Thomas Fasbender, der seit 1992 in Moskau lebt, ist lieber Russland-Erklärer als Russland-Versteher. Er sprach über Russlands Weg und die Illusionen des Westens.**) Er sieht einen neuen kalten Krieg entstehen. Die politische Atmosphäre zwischen Russland, Deutschland und dem übrigen Westen sei „vergiftet wie lange nicht mehr“. Diesmal fehle der gegenseitige Respekt. Es handele sich um einen weltanschaulichen Konflikt. Die Ukraine sei nur das Symbol, nicht der Grund der Auseinandersetzung. Seinen Vortrag hat er unter das Motto gestellt „Warum wir Russland brauchen, wie es ist, und nicht, wie wir es gern hätten“. Die Russen könnten für uns in ihrem Anders-Sein von großem Nutzen sein. Auf die Frage, wer unsere Freiheit mehr bedroht, gibt er diese klare Antwort: Unsere Freiheit bedroht nicht der Iwan, sondern Uncle Sam. Unsere Freiheit bedrohen wir selbst.“

„Russland geht einen respektablen Weg“

Der Politikwissenschaftler und Publizist Sascha Tamm befasste sich mit dem Thema „Liberalismus statt Putin – eine Alternative für Russland“ und greift dabei auf seine zweieinhalb Jahre Aufenthalt in Russland zurück. Liberale Alternativen habe er nicht zu bieten, sagte er, und seine rhetorische Frage „Wie frei sind die Menschen in Russland heute?“ beantwortete er so: „Weit mehr als in der ganzen russischen Geschichte zuvor.“ Gewiss, die politische Freiheit sei weiterhin eingeschränkt, die Wahlen würden natürlich gefälscht, aber es gebe für die Russen jetzt zum Beispiel Bewegungsfreiheit, sie könnten Eigentum erwerben, geachtet freilich würden die Eigentumsrechte nicht, sie seien politisiert. Auch unternehmerische Freiheit bestehe wie nie zuvor, allerdings nicht im ausreichenden Maß. Medien und Blogger könnten fast alles sagen und schreiben, aber 90 Prozent der Bevölkerung bekämen davon nichts mit. Russland sei auch kein stark ideologisches System mehr, aber das Denken aus siebzig Jahren Sowjetzeit stecke in den Menschen noch drin. Diese Haltung kennzeichnete Tamm unter anderem so: „Sie (der Staat) tun so, als ob sie uns bezahlen, und wir tun so, als ob wir arbeiten.“ Die Umgebung und die Politik zu ändern, hätten sie aufgegeben, sie passten sich ihr an. Dennoch befand er: „Russland geht einen respektablen Weg.“ Vieles habe sich in Russland zum Besseren entwickelt, in Europa und im Westen dagegen zum Schlechteren. „Europa ist bereits kaputt. Wir müssen Europa vor dem Westen retten.“

„Sollte Russland nicht unser natürlicher Verbündeter sein?“

Der Wirtschaftspublizist und Buchautor Günter Ederer glaubt, „dass wir uns auf eine längere Eiszeit einstellen müssen“. Zu den Sanktionen sagte er: „Sie wirken allenfalls erst nach sehr langer Zeit. Aber können wir sie so lange durchhalten?“ Ederer sieht die Freiheit durch drei Gefahren bedroht: durch den wirtschaftlichen Erfolg Chinas auch ohne Demokratie, durch das Sicherheitsdenken in den USA und durch die Gleichheitsideologie in Westeuropa. Chinas Wirtschaftserfolg zeige scheinbar, dass es auch ohne Freiheit gehe. Das scheine der alten Erkenntnis zu widersprechen und entfalte „Anziehungskraft auch bei uns“. Er sprach über die russische Gefahr und gehört zu jenen, die Russland mehr fürchten als die USA. Gregor Fernbach dagegen „kann nicht sehen, dass Putin-Russland unser Feind ist“ und fragte rhetorisch: „Sollte Russland nicht unser natürlicher Verbündeter sein?“ Er sprach über die russische Orthodoxie und beschrieb als historische
Beispiele zwei Heilige: Zar Nikolaus II. und den Deutschrussen Alexander Schmorell. Den Zar richteten die Bolschewisten hin, Schmorell die Nazi-Schergen.

Keine Angst vor einem starken Russland, aber vor einem schwachen

Der Wirtschaftswissenschaftler Christoph Braunschweig, der an der Wirtschaftsuniversität in Jekaterinenburg lehrt, zog eine kritische Bilanz der russischen Ökonomie und beschrieb die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Defizite und Fehlentwicklungen. Russland leide am mafiosen Kapitalismus und wachsenden Staatseinfluss. Es sei ein untervölkertes und korruptes Land, aber mit ausgeglichenem Haushalt. Die Sanktionen hält Braunschweig für überflüssig und dumm. Aber den Deutschen nähmen die Russen das nicht übel, sie könnten ja nichts dafür, es sei ein Befehl aus dem Weißen Haus. Die Russen gefielen sich darin, die Einbußen durch die Sanktionen mit Stolz zu ertragen, aber Nationalismus und Populismus seien die Folge. Braunschweig sagte: „Vor einem starken Russland habe ich keine Angst, aber vor einem schwachen.“ Ihn beunruhigt: „Wir haben in Russland einen Patienten, einen seelisch Verletzten. Wir gehen falsch mit ihm um, behandeln ihn falsch.“ Haften blieb auch seine Äußerung: „Wir werden uns nach Putin noch sehnen. Er kennt uns, spricht Deutsch, und er macht ja auch nicht alles falsch.“

Die USA der strategische Aggressor, Russland in der Defensive

Bruno Bandulet, der Finanz- und Wirtschaftsfachmann, Publizist und ehemaliger Chefredakteur (Die Welt, Quick), sieht in den USA den strategischen Aggressor. Russland handele nur aus der strategischen Defensive heraus. Mit Putin an der Spitze seit dem Jahr 2000 habe Russland seine Rolle als Mitspieler wiedergefunden. Putin habe die (einst von Chruschtschow an die Ukraine gegebene) Krim genommen, um sie nicht in die Hände Nato fallen zu lassen. Die Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato 2004 habe Putin noch hingenommen, aber für die Ukraine nun eine rote Linie gezogen. Was Russland mit der Ukraine an strategischer Tiefe verlieren würde, gewinne die Nato. Inzwischen hätten die USA gegen Russland einen Wirtschafts- und Finanzkrieg eröffnet, und die EU müsse notgedrungen mitmachen.

„In Russland einen Gegner geschaffen, der gar keine sein wollte“

Putin, sagte Bandulet weiter, sei zugute zu halten, dass er die Außenwelt über seine Absichten nicht im Unklaren gelassen und mit offenen Karten gespielt habe. Er verwies auf Putins Rede 2001 im Bundestag und bei der Sicherheitskonferenz in München 2007, wo er die Nato gewarnt habe. Niemand im Westen könne sagen, er sei nicht gewarnt worden. Aber die USA hätten sich nicht darum gekümmert. Bandulet sagte: „Wir haben uns in Russland einen Gegner geschaffen, der gar keiner sein wollte.“ Es müssen ein Deal gefunden werden, der die Interessen aller (Ukraine, Russland, EU, USA) berücksichtige. „Nato und EU sollen darauf verzichten, sich die Ukraine einzuverleiben. Sonst würde es uns schaden, nicht den USA, die sind weit weg.“ In der Diskussion wurde ihm entgegengehalten: „Die Ukraine muss das Recht haben, selbst zu entscheiden, wohin sie gehören will.“

Wie die Internet-Medien die Glaubwürdigkeit der Herrschenden untergraben

Über die Rolle der Medien und des Internet im neuen Ost-West-Konflikt sprach der Ökonom und Publizist Robert Grözinger.  In den Medien sei der Hauptkampfplatz für diesen Konflikt zu finden, vor allem in den Massenmedien. Darunter versteht er Medien, „die so etabliert sind, dass ihre Meldungen seit langem von den meisten Konsumenten nicht weiter hinterfragt oder in Zweifel gezogen werden“.  Mit den Internet-Medien sei diesen etablierten Medien ein Konkurrent entstanden. Mit dem Internet habe eine Reformation stattgefunden wie einst mit Luther die kirchliche Reformation, damals wesentlich ermöglicht durch den Buchdruck, mit dem sich eine größere Öffentlichkeit herstellen ließ. Die Rolle des damaligen Buchdrucks spiele heute das Internet. Grözinger stellte dar, auf welche Weise die Internet-Medien die Glaubwürdigkeit der etablierten Medien und damit der herrschenden Klasse untergraben. Er zeigte ferner, dass in der Ukraine-Krise diese Internet-Reformation an Fahrt gewonnen hat. Mit ihr werde eine Gegenöffentlichkeit hergestellt.

Die Gegenöffentlichkeit, unterstützt von Putin

Grözinger sieht im Ost-West-Konflikt auch die Auseinandersetzungzwischen einer zentralisierenden und einer dezentralisierenden Tendenz. Die zentralisierende Tendenz habe die Vision einer unipolaren Weltregierung. Die unter ihrer Kontrolle befindlichen Medien transportierten diese Vision als positive Botschaft, aber selten offen, meist unter der Hand. Wer sich der Verwirklichung dieser Vision widersetze, zum Beispiel wer sich dem globalen Kampf gegen die angebliche Klimakatastrophe widersetze, sei per Definition böse. Nur Russland sei, zusammen mit China und Iran, eine der ganz wenigen Mächte, die es sich leisten könne, dieser zentralisierenden Tendenz zu widerstehen. Deshalb unterstütze Putin gerne die derzeitigen Träger dezentralisierender Tendenzen, das heiße, die Gegenöffentlichkeit zu den westlichen Massenmedien, zum Beispiel über den Sender Russia Today. Dass Putin selbst keine reine Weste habe, störe die westliche Gegenöffentlichkeit nicht. Grözinger: „Putin ist für sie derzeit kein Gegner, also ist er für sie derzeit kein Thema. Das muss aber nicht so bleiben. Denn die Gegenöffentlichkeit ist dezentral und somit nicht steuerbar.“

Die Krim als russische Sonderwirtschaftszone?

Könnte die Krim zu einer Sonderwirtschafts- und Freihandelszone, zu einem europäischen Hongkong entwickelt werden? Stephan Bannas bezweifelt das: „Sie wird es nicht, sie würde nicht funktionieren.“ Bannas, der bundesweit Steuerberaterlehrgänge veranstaltet, zählte viele Gründe dafür auf. Er kann sich dort allenfalls ein Zentrum für das Geld- und Finanzwesen vorstellen, zum Beispiel wenn die BRICS-Staaten – also die aufstrebenden Volkswirtschaften von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – eine Parallelwährung zum amerikanischen Dollar aufbauen würden.

Die anderen Vorträge

Henning Lindhoff, stellvertretender Chefredakteur des Magazins eigentümlich frei, gab einen Überblick, wie die westlichen und östlichen Geheimdienste das Internet überwachen und okkupieren. An die westlichen gingen alle Daten aus dem Telefon- und Glasfasernetz. Die Dienste könnten sich inzwischen auch direkt („live“) zuschalten. Lindhoff verwies auf das Buch „Das überwachte Deutschland“ von Josef Foschepoth. In Russland erfasse seit 1995 der Rechnerverbund SORM alle Telefon- und Internet-Daten.

Der Wirtschaftsphilosoph, Hochschullehrer und Publizist Gerd Habermann befasste sich mit dem Buch des russischen Mathematikers und Philosophen Igor Schafarewitsch „Der Todestrieb in der Geschichte“, erschienen 1980 im Ullstein-Verlag, dessen eigentlicher Titel aber laute „Der Sozialismus als Phänomen der Weltgeschichte“. Er versah das Buch mit Anmerkungen aus liberaler Sicht und zeigte an Beispielen aus heutiger Zeit, auf welchen Weg in Richtung sozialistischer Welt Deutschland und andere westliche Staaten schon geraten sind.

Die Liberalismuskritik des russischen Philosophen Alexander Dugin, der als Vordenker von Putin gilt, stellte der Publizist Igor Ryvkin vor. Dessen Buch „Grundlage der Geopolitik“ sei Pflichtlektüre des einstigen sowjetischen Geheimdienstes KGB gewesen, dem bekanntlich auch Putin entstammt.

Über die russischen Wurzeln der amerikanischen Philosophin Ayn Rand, die eine scharfe Kritikerin des Wohlfahrtsstaates war, sprach Ulrich Wille.

Ein Wunsch der Teilnehmer am Schluss: Diese erste Konferenz des ef-Magazins möge nicht die letzte gewesen sein.

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*) Sie fand vom 14. bis 16. November 2014 im großen Baltic-Hotel (ehemals DDR-Ferienhotel „Roter Oktober“) in Zinnowitz auf der Insel Usedom statt.

**) Fasbender hat auch ein Buch darüber geschrieben: Freihat statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens. Lichtschlag in der Edition Sonderwege. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas Hoof KG, Waltrop und Leipzig 2014. 361 Seiten. ISBN 978-3-944872-06-3

http://kpkrause.de/2014/11/17/wer-ist-die-grosere-gefahr-russland-oder-die-usa/