Interview „Wir haben Millionen Deutschen die soziale Sicherheit genommen“

Der sozialdemokratische Publizist Albrecht Müller sieht einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Militarisierung der Politik und einer fehlenden, aktiven Beschäftigungspolitik. Weder die SPD noch die anderen Parteien nehmen darauf Rücksicht, was die Mehrheit der Deutschen wirklich will.

Besucher einer SPD-Veranstaltung am 04.03.2017 in Würzburg. (Foto: dpa)

Besucher einer SPD-Veranstaltung am 04.03.2017 in Würzburg. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es ist Wahljahr. Wir bekommen wieder vermehrt zu hören, dass es den Deutschen gut gehe. Sogar der Caritas-Verband lobt die Situation im Land. Viele Deutsche erleben das aber ganz anders: Sie brauchen mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen, sind in Billig-Jobs oder Hartz IV oder arbeitslos…

Albrecht Müller: Das DIW hat dieser Tage eine Studie veröffentlicht, wonach die unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher in den letzten 25 Jahren deutlich hinter den oberen 60 Prozent zurückgeblieben sind. Die unteren 10 Prozent mussten Realverluste hinnehmen. das Armutsrisiko ist gestiegen. Das liegt daran, dass es seit vielen Jahren keine aktive Beschäftigungspolitik mehr gibt. Niedriglohnsektor und atypische Beschäftigungsverhältnisse hätten an Bedeutung gewonnen, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest. Die Reallöhne, also der Bruttolohn nach Abzug der Preissteigerungen, stagnieren seit vielen Jahren. Wenn die Caritas das nicht so sieht, versucht sie zu beschönigen. Es gibt eindeutig eine Verschiebung bei den Vermögen und bei den Einkommen – und zwar eine Verschiebung zugunsten der großen Vermögen und Spitzengehälter.

Als in den 1970er-Jahren bekannt wurde, dass zum Beispiel der Bertelsmann-Chef über eine Million D-Mark verdient, gab es einen Riesenaufschrei. Die meisten Konzernchefs verdienten weniger. Heute reden wir von Gehältern und Boni von 6 Millionen und von 14 Millionen Euro zum Beispiel – in D-Mark umgerechnet fast das Doppelte. Da ist etwas aus den Fugen geraten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Woher kommt diese Entwicklung, dass die Schere immer weiter aufgeht?

Albrecht Müller: Die Ursache liegt in einer seltsamen Allianz, die sich Ende der 1970er-Jahre ergeben hat. Viele linke, ja sogar marxistische Ökonomen sagten nahezu dasselbe wie die neoliberalen Ökonomen, dass nämlich Keynes ausgedient habe und der Staat die Konjunktur nicht durch Ausgaben stimulieren könne. Die Neoliberalen setzten auf Sparmaßnahmen. Ich war damals Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Damals wurde bereits Druck auf Bundeskanzler Schmidt ausgeübt. Es war ziemlich absurd: Wir hatten in Deutschland eben die gegenteilige Erfahrung gemacht, und zwar erfolgreich: Nach dem Öl-Preisschock vom Oktober 1973 brach die Konjunktur ein. Das Bruttoinlandsprodukt sank von 1974 auf 1975 um 1,3 Prozent. Die Bundesregierung hat schon vorher auf den erkennbaren Konjunktureinbruch mit einer aktiven Beschäftigungspolitik reagiert. Mit 5,3 Prozent Plus in 1976 war die Lage gerettet. Die Regierung Schmidt hat dann anschließend noch das sogenannte Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt. Das ifo-Institut in München bescheinigte in einer Studie den Erfolg dieses sogenannten ZIP. Komischerweise ist die Studie verschwunden. Die dann auch bei ifo eingezogenen neoliberalen Ökonomen wollten den Erfolg der verachteten aktiven Beschäftigungspolitik offensichtlich nicht auf Dauer dokumentieren.

Anfangs der 1990er-Jahren wirkte die Vereinigung beider Teile Deutschlands wie ein Konjunkturprogramm. die Arbeitslosenrate, die 1980 noch bei 3,8 Prozent lag, in den Achtzigern dann auf Werte um 9 Prozent gestiegen war, sank. Aber dann wurde die erreichte Erholung der Konjunktur mit massiven Erhöhungen der Leitzinsen durch die Deutsche Bundesbank abgebrochen. Die Arbeitslosenrate erreichte 1996 einen Spitzenwert von 12,7 Prozent. Zu Beginn der rot-grünen Koalition sank die Zahl der Arbeitslosen ein bisschen. Aber dann verkündete der Sachverständigenrat im November 2000 trotz erkennbarer Konjunkturschwäche, die Konjunktur laufe rund – und der damalige Finanzminister Eichel hatte unter dem Einfluss seines PR-Beraters die abstruse Idee, sich als „Sparkommissar“ zu profilieren. Die Mehrheit der Medien unterstützte ihn. Die Arbeitslosigkeit begann wieder zu steigen. Und darauf reagierte die Regierung Schröder nicht mit einem Beschäftigungsprogramm, sondern mit der Agenda 2010.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sagten, es wurde Druck auf Bundeskanzler Schmidt ausgeübt. Von wem?

Albrecht Müller. (Foto: Nachdenkseiten)

Albrecht Müller. (Foto: Nachdenkseiten)

Albrecht Müller: Es gibt eine Periode, die noch zu wenig erforscht ist, die aber entscheidend ist für unsere heutige Misere. Damals gewann die sogenannte Chicago-Schule Einfluss auf die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vieler Länder des Westens. Naomi Klein hat einen eklatanten Fall in ihrem Buch „Schock-Strategie“ beschrieben. Damals nutzten Vertreter dieser neoliberalen Kaderschmiede den Putsch des General Pinochet in Chile, um dort ihre Rezepte auszuprobieren: Löhne runter, Sozialleistungen streichen, Privatisierung öffentlicher Betriebe, beim Staat Beschäftigte entlassen, Altersversorgung privatisieren. Dies sollte die Wirtschaft ankurbeln – ohne staatliche Beschäftigungsprogramme.

Vermutlich hatten die sogenannten „Chicago Boys“ auch in Europa und in Deutschland großen Einfluss. In Deutschland gehörte Hans Tietmeyer dazu, später Präsident der Deutschen Bundesbank, aber schon in den Siebzigern Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und spiritus rector des sogenannten Lambsdorff Papiers – das Planungspapier vom September 1982 zum Beginn der neoliberal geprägten Wirtschaftspolitik in Deutschland. Von Lambsdorff beispielsweise kam der zuvor erwähnte Druck auf Kanzler Schmidt.

Schon vorher wirkten diese Theorien bis in die Reihen der SPD hinein, obwohl diese Partei zum Segen unseres Landes beste Erfahrungen mit der von Keynes geprägten aktiven Beschäftigungspolitik gemacht hatte. Ich erinnere mich mit Schaudern an eine Sitzung an einem Sonntag im Sommer 1981 im Bundeskanzleramt. Damals wurde die sogenannte „Operation 1982“ beraten – die erste große Spar-Aktion, also noch zu Helmut Schmidts Zeiten. Sozialleistungen sollten gekürzt werden, es sollte gespart werden – ohne Rücksicht auf die Konjunktur und den zu erwartenden Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Bitte hier weiterlesen:

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2017/03/06/wir-haben-millionen-deutschen-die-soziale-sicherheit-genommen/

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